Marcelo Martinessi wurde 1973 in Asunción in Paraguay geboren. Nach dem Studium der Kommunikationswissenschaft in seiner Heimatstadt besuchte er die London Film School. Sein Kurzfilm „La Voz Perdida“ wurde 2013 zu einem internationalen Erfolg. Sein Langfilmdebüt „Die Erbinnen“ erhielt auf der Berlinale u.a. den Silbernen Bären für die beste Darstellerin Ana Brun. Am 29. November startet der Film nun in den Kinos.
engels: Herr Martinessi, wie sind Sie auf die Idee des sozialen Hintergrunds Ihres Films gekommen, in dem Leute von ihrem Erbe leben?
Marcelo Martinessi: Ohne das Klassensystem zu verstehen, weiß man nicht, wie meine Gesellschaft funktioniert. Der soziale Hintergrund war die natürliche Konsequenz der Geschichte über ein Paar, das sich an einen Lebensstil klammert, den es sich nicht länger leisten kann. Deswegen bringt ihr Statusverlust sie in Situationen, mit denen sie zuvor noch nie zu tun hatten. Viele der Umstände des Films haben mit meinen eigenen persönlichen Erinnerungen zu tun. Geerbte Gegenstände zu verkaufen, um zu überleben, ist nichts Ungewöhnliches in Asunción, meiner Heimatstadt und dem Ort, an dem der Film angesiedelt ist. Ich war so oft auf Garagenverkäufen von Möbeln, Essbesteck oder Porzellan, und es hat mich immer beeindruckt, welche Geschichten die Leute dabei erfinden, um ihre Scham zu kaschieren: „Wir ziehen in eine nette, aber kleinere Wohnung“, „Wir verreisen ins Ausland“ usw. Als ich mir die Protagonistinnen Chela und Chiquita ausmalte, dachte ich an das, was wir in Paraguay „Familien mit üppigen Nachnamen und mickrigen Geldbeuteln“ nennen, was sich auf traditionsreiche Familien bezieht, die nicht mehr im selben Reichtum leben wie früher.
War es Ihnen als schwuler Regisseur wichtig, dass Ihre Protagonistinnen ebenfalls homosexuell sind?
Ich komme aus einer extrem konservativen und katholischen Gesellschaft, in der die Repräsentation homosexueller Charaktere meistens darauf angelegt ist, das Publikum zum Lachen zu bringen. Deswegen hat uns „Die Erbinnen“ abseits dieser Karikaturen die einzigartige Möglichkeit gegeben, eine universelle Geschichte mithilfe eines lesbischen Paares zu erzählen, das sich mit Problemen konfrontiert sieht, die über ihre sexuelle Orientierung hinausgehen: Alter, eine lebenslange Beziehung, die in der Krise steckt, wirtschaftlicher Niedergang, aber auch die Chance, sich selbst neu zu erfinden. Es war nicht einfach für mich, mich in das Seelenleben einer 65jährigen lesbischen Frau hineinzuversetzen. Aber Kino ist eine Gemeinschaftsarbeit, und ich hatte Hilfe von Menschen, die das Drehbuch gelesen haben, und natürlich von den Schauspielerinnen, die ihre Charaktere mit einer Menge Ehrlichkeit gefüllt haben.
Dass die beiden lesbisch sind, wird nur dezent angedeutet. Wäre es ein Problem geworden, das deutlicher zu machen?
Nein. Ich glaube, wenn man weniger zeigt und etwas versteckt, erschafft das eine stärkere Präsenz. Ich interessierte mich für lesbische Frauen in ihren 60ern und 70ern, die während der Unterdrückung der Diktatur aufgewachsen waren und die Homophobie des Systems geradezu internalisiert haben. Im Film sagt Chiquita einmal über ein Mädchen: „Ah! Die, die wie ein Junge aussieht.“ Diese Dialogzeile habe ich im Prozess des Schreibens, Filmens und Schneidens regelrecht verteidigt. Denn es war mir wichtig, damit zu zeigen, dass die beiden nicht militant sind und nicht zu den modernen Lesben gehören, die für ihre Rechte kämpfen. Sie leben in einer Gesellschaft, die sie nicht als das akzeptiert, was sie sind. Deswegen müssen sie, vielleicht unbewusst, Scheinidentitäten annehmen, um zu überleben. Inwiefern auch geerbte Vorurteile ihr Handeln bestimmen, hat mich sehr interessiert.
Sie sind mit dem Kurzfilm „La Voz Perdida“ bekannt geworden, der sich mit dem Staatsstreich in Ihrem Heimatland Paraguay beschäftigt. Wurde es gefährlich für Sie in Ihrer Heimat, oder warum sind Sie nach London gezogen?
Ich habe in den Jahren 2003/04 an der London Film School studiert. Seit dieser Zeit lebe ich abwechselnd in Paraguay und Großbritannien. 2010 entschied ich mich, in Paraguay zu bleiben und als Regisseur für den ersten öffentlichen Fernsehsender des Landes zu arbeiten. Das war während einer kurzen progressiven Regierungsphase, die mit der 62jährigen Vorherrschaft einer Ein-Parteien-Regierung brach und uns auf eine bessere Zukunft hoffen ließ. Hoffnungen und auch der öffentliche Fernsehsender verschwanden zwei Jahre darauf, 2012 während des Staatsstreiches. Dieser Moment rief bei mir eine persönliche Krise hervor. Ich war wütend auf die „petit bourgeoisie“, die Klasse, aus der ich komme, weil ich den Eindruck hatte, sie unterstütze den Staatsstreich und verhindere damit einen wichtigen politischen Prozess in meinem Land. Sie machten das alles nur, um ihre Privilegien zu behalten. Zum gleichen Zeitpunkt erkannte ich auch zum ersten Mal, dass meine vorherigen Arbeiten über Menschenrechte und politische Ungerechtigkeiten sehr militant waren, und aus diesem Grund von der herrschenden Klasse komplett ignoriert wurden. Und diese Menschen brauchte ich, um mit ihnen in den Dialog zu treten. Deswegen entschied ich mich nach „La Voz Perdida“, der in gewisser Weise auch noch einen militanten Hintergrund hat, einen Film zu drehen, der sich nicht mit besonderen Momenten unserer politischen Geschichte beschäftigt, sondern mit Gefängnissen, die wir uns in unseren Familien, Beziehungen und Institutionen selbst erschaffen. Über die Gefangenschaft als Teil der paraguayischen DNS. Ich hätte „Die Erbinnen“ nicht im Land selbst und damit so nah an einer Gesellschaft schreiben können, die ich nicht verstehen konnte und noch immer nicht verstehe.
„Die Erbinnen“ war Ihr erster Langfilm. War es wesentlich schwieriger als bei den Kurzfilmen, ihn zu realisieren?
Bei einem Langfilm muss man sich viel intensiver mit der Geschichte beschäftigen. Aber wenn man aus Paraguay kommt, ist es bei jedem Film schwierig, ihn zu realisieren, denn das Land schert sich kaum um kulturelle Angelegenheiten und blickt auf Jahrzehnte der Dunkelheit zurück, in denen Kino generell unmöglich war. Als ich über Chela und Chiquita schrieb, merkte ich, dass ich versuchte, einen Dialog mit dieser düsteren Zeit und mit einer Gesellschaft, die sich nicht ändern will, zu schaffen. Einer Gesellschaft, die versteckt bleiben möchte und sich an ihren eigenen Schatten klammert. Bis Juli 2018 gab es keinerlei staatliche Förderungen für Filme und Kino. Das Positive ist, dass auch ohne staatliche Unterstützung jährlich fünf Filme in Paraguay produziert werden. Einige sind auch große Publikumserfolge, insbesondere Komödien, Horror- und Actionfilme. Nichts mit den üblichen Regeln der Kinoindustrie und der Massenproduktion zu tun zu haben, ist auch ein Vorteil. Filme sind in Paraguay noch immer etwas ganz Besonderes, eine Art Wunder.
Die beiden Hauptdarstellerinnen hatten auch noch nicht viele Filme gedreht. Wie haben Sie sie für die Rollen ausgesucht?
Wenn man für eine lange Zeit an einem Drehbuch geschrieben und die Figuren auf dem Papier romantisiert hat, dann ist der Prozess des Castings ein sehr dünnhäutiger, der einen voll und ganz in Beschlag nimmt. Mir ist das zumindest bei diesem Langfilmdebüt passiert. Da es in Paraguay kaum etablierte Filmdarsteller gibt, wussten wir, dass wir Schauspieler mit Theatererfahrung mit Frauen kombinieren mussten, die vielleicht noch niemals zuvor darstellerisch tätig waren. Trotzdem war es kein ausufernder Castingprozess. Ana Brun war eine der ersten Schauspielerinnen, mit der ich mich traf. Sie hatte zuvor bereits Theater gespielt, aber nie hauptberuflich. Ich hatte spontan den Wunsch, mit ihr zu arbeiten. Ihre Augen und die Art, wie sie diese einzusetzen verstand, gaben mir die Gewissheit, dass sie das Potenzial hatte, Chela zu spielen, eine Hauptfigur mit nur sehr wenig Dialog. Während der Proben gab ich ihr Hilfsmittel, mit denen sie ihre eigenen Lebenserfahrungen einbeziehen konnte. Und beim Dreh musste ich darauf achten, dass ihre Darstellung auch nach mehreren Durchläufen noch frisch und unverbraucht blieb.
Margarita Irún in der Rolle der Chiquita ist eine große paraguyanische Bühnenschauspielerin mit einer Karriere, die über 50 Jahre umspannt. Das ist ihr zweiter Leinwandauftritt. Und ihre Arbeit zeichnet sich ebenfalls durch große Feinfühligkeit aus. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass meine beiden Hauptdarstellerinnen, die beide schöne Frauen sind, die sich sehr um ihr Erscheinungsbild sorgen, mir soweit vertrauten, dass wir sie mit nur sehr wenig Make-up filmten. In der Handlung ist der Faktor Zeit wichtig, weswegen die Falten in ihren Gesichtern Teil ihrer Charaktere waren und ihre Geschichten zu unterstreichen halfen.
Ana Ivanova ist in der Theaterszene Asuncións eine bekannte Schauspielerin. Sie hat sehr viele Theaterstücke, Kurzfilme und Kunstinstallationen gemacht, und da wir gleich alt sind, habe ich ihre Karriere über die Jahre hinweg verfolgt. Während des Castings habe ich gespürt, dass diese drei Frauen durch sehr spezielle Phasen ihres Lebens gehen und nach einer Herausforderung suchen. Das ist großartiges Material für ein Drama.
Wie wichtig war es Ihnen, deutsche und französische Koproduzenten für den Film zu haben?
Die Koproduktion war essentiell für uns. Das Hauptziel bestand darin, die richtigen Partner (in fünf Ländern) zu finden, die unser Projekt verstanden und mochten, weil sie es dann mit viel Leidenschaft verteidigen konnten. Die Unterstützer kamen zunächst aus Deutschland, Brasilien und Uruguay, danach aus Norwegen. Frankreich war auch schon früh dabei, aber die Förderung von dort kam erst später. Es war ein Glücksprojekt. Von den meisten Förderanstalten wurden wir sehr wohlwollend aufgenommen, was ungewöhnlich ist angesichts der Menge und der Qualität der Bücher, die dort eingereicht werden.
„Die Erbinnen“ war auf internationalen Festivals sehr erfolgreich. Wie hat das Publikum in Paraguay darauf reagiert?
Nach den vielen Berichterstattungen von lokalen und internationalen Zeitungen während der Berlinale wurden die beiden Schauspielerinnen bei ihrer Ankunft am Flughafen von Asunción wie Rockstars empfangen. Aber nachdem die Menschen herausgefunden hatten, dass ein lesbisches Paar im Mittelpunkt des Films steht, waren die Reaktionen natürlich etwas gemischter. In Paraguay gibt es nach wie vor noch eine große Homophobie. Als uns im letzten April beispielsweise vom Senat eine wichtige nationale Ehrung für den Film zugesprochen wurde, verließen ungefähr die Hälfte der Senatoren bei unserer Ankunft den Saal. Eine Senatorin beschimpfte unsere Darstellerin Ana Brun heftig, dass sie lesbische Liebe fördern würde. Mir war gar nicht bewusst, wie unhöflich unsere Autoritätspersonen sein können. Da ich in den letzten Jahren viel gereist bin und im Ausland gelebt habe, war ich überrascht über den Grad des praktizierten Unwissens innerhalb der Führungsschicht dieses Landes. Wenn ein Senator ein solches Verhalten an den Tag legen und ungestraft damit durchkommen kann, kann man sich leicht vorstellen, wie die Erfahrungen der LGBTQ-Gemeinschaft in Paraguay im Alltag aussehen.
Gibt es schon ein neues Projekt, an dem Sie derzeit arbeiten und über das Sie uns schon etwas erzählen können?
Ups... Wir haben den Film gerade noch rechtzeitig für die Berlinale 2018 fertigbekommen. Danach hatten wir die Premiere in Paraguay und Reisen in andere Länder, um den Film vorzustellen. Ich muss mir irgendwann mal ein paar Monate Auszeit gönnen, mich hinsetzen und Szenen und Ideen zu Papier bringen, die mir im Kopf herumschwirren. Wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich immer in Paraguay arbeiten und Geschichten dieses Landes erzählen, weil ich glaube, dass darin meine Stärke liegt. Dort komme ich her, und die Gesellschaft dort verstehe ich. Ich bin keiner jener Regisseure, die sich einfach ein paar Schauspieler und ein Drehbuch schnappen, um daraus dann einen Film zu machen. Für mich kommt Filmemachen aus meinem Inneren, und bislang war das für mich nur in Paraguay möglich.
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