Gregor ist ein erfolgreicher Arzt, verheiratet und plant, mit seiner Frau ein Reihenhaus zu kaufen. Sein Bruder Pietschi dagegen ist ein chaotischer Künstler und kann nie lange bei einer Freundin bleiben. Auf den ersten Blick scheinen hier zwei sehr ausgelutschte Klischees aufeinander zu prallen. Auch, dass der Spießer mit Mitte 30 in eine Sinnkrise stürzt, hat man schon oft gesehen.
Doch Maximilian Leos Film hält sich nicht an diesen Klischees fest. Nachdem Pietschi beim Segelausflug verschwindet, taucht Gregor nach und nach in dessen Leben und Welt ab und fängt an, sein eigenes Dasein, seine Interessen und Wünsche zu hinterfragen. Anfangs ist er einfach nur wütend, weil es scheint, als habe sein Bruder ihn sitzen gelassen. Doch die Angst, dass sein Bruder sich umgebracht haben könnte, und die dazu gehörigen Schuldgefühle nehmen jeden Tag zu. Aus dem Hinterhertelefonieren wird ein Forschen, dann ein Abtauchen, am Ende fast ein Auflösen seiner selbst. „Du bist ja eifersüchtig." muss er sich schon nach kurzer Zeit von einem alten Jugendfreund anhören.
„Hast du noch nie darüber nachgedacht, dich umzubringen?"
„Das Drama, wenn jemand aus dem Leben verschwindet oder Suizid begeht, findet bei den Zurückgelassenen statt", erzählt Maximilian Leo beim Gespräch. Er wolle mit seinem Film, basierend auf dem Drehbuch von Susanne Finken, zeigen, was mit ihnen passiert, mit welchen Gefühlen, welchen Ängsten sie sich auseinandersetzen müssen. Besonders bei Geschwistern sei die Beziehung sehr intensiv und wichtig, da man teilweise „das Eine für den Anderen miterlebt." Man labe sich regelrecht am Leben des Anderen. Er habe zusätzlich das Gefühl, dass der Identitätsbegriff ein sehr ungenauer sei. Meist finde die Definition durch die statt, mit denen man aufwächst oder lebt. Wer ist man also, wenn ein nahe stehender Mensch geht? „Was wäre, wenn meine Schwester nicht mehr da wäre?", fragt er in die Runde.
„Der Teppich hier ist verdammt fickbar."
Sebastian Zimmler zeichnet einen sehr stillen, nachdenklichen und eigentlich recht unsicheren Gregor, der sich immer als „Hüter", als Beschützer seines Bruders sieht. Er ist der Ältere, der Vernünftigere. Aber er ist nicht unbedingt der Glücklichere und Erfolgreichere. Gleichzeitig scheint auch Pietschi, dargestellt von einem verschmitzten Robert Finster, nicht wirklich in seinem Leben aufzugehen. Er hat großes Talent, fühlt sich jedoch merklich nicht wohl in seiner Haut. Gregor wiederum findet sich zunehmend heimischer in eben diesem Leben und stellt sogar Pietschis Ex Jule (Nadja Boyleva) nach. Recht plakativ wird sie als die junge, anziehende Versuchung entworfen, die eine aufregende Abwechslung zur gewohnten Ehefrau bietet. Wie selbstverständlich beginnt Gregor, um sie zu werben und tatsächlich fehlt hier die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen. Dies passt wiederum zu Gregors Ego-Trip, der nicht mehr mit bekommt, was er den Menschen um sich herum antut.
„Ich dachte immer, mein Bruder braucht mich. Dabei brauche ich ihn genauso sehr."
Maximilian Leo sieht die Botschaft im Film eindeutig darin, mehr Fragen zu stellen und sich seiner selbst nicht so sicher zu sein. Für ihn ist „nichts in Stein gemeißelt.". Stattdessen solle man mehr nachspüren und sich selbst mehr Raum geben, um sich zu verändern und „Gefühl zu sich aufbauen" zu können. Gleichzeitig räumt er ein, dass vielfältige Interpretationen des Films möglich seien, da es auf die Frage „Was ist denn jetzt die Wahrheit?" keine eindeutige Antwort gibt.
Ein Gast sieht so zum Beispiel auch die Frage „Was ist Erfolg eigentlich?", da offensichtlich beide Brüder nicht wirklich erfolgreich darin sind, ein glückliches Leben zu führen. Dass Gregor besonders durch Social Media seinem Bruder nahe kommt, ist für Maximilian Leo eine neue Problematik. „Durch facebook und youtube gibt es eine ästhetische Schere zwischen den Generationen.", findet er. Deswegen möchte er der „Kakofonie der Reize Ausdruck verleihen" und die unterschiedlichen Bilderwelten erlebbar machen.
„Vielleicht hatten Sie einfach die Schnauze voll von Ihrem scheiß Wichserleben."
„Hüter meines Bruders" ist ein ruhiger, unaufgeregter Film, der nichts erklären will. Die Figuren haben Zeit, sich zu entwickeln, zu verwandeln. Die anfängliche Fremdheit Gegors zu sich selbst, wird subtil durch eine sehr enge, sehr nahe Kamerafahrt und vermehrte Aufnahmen von hinten verdeutlicht, erst im Verlauf des Films sieht man Gregors Gesicht und seine Regungen. Auch die Lichtführung, sowie die Farbwelt der Brüder zeigen auf, wie sehr die Beiden verwoben sind. „Wir gehen immer davon aus, dass alles aus Teilchen besteht. Ich sehe das eher als Welle.", sagt Maximilian Leo zum Abschluss.
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