engels: Herr Khorchide, fühlen Sie Ihren persönlichen Frieden manchmal bedroht?
Mouhanad Khorchide: Mein persönlicher Frieden ist nicht vom Alltagsgeschehen abhängig. Ich sorge mich aber über die Entwicklung sowohl in der islamischen Welt als auch in Europa. Wer hätte gedacht, dass so viel Unheil im Namen des Islams geschehen und dass ein sogenannter „Islamischer Staat“ von Terroristen ausgerufen wird. Dieser Staat hat viel mehr Muslime als Nichtmuslime getötet und hält die Weltpolitik in Atem. Auf der anderen Seite leiden hier immer mehr Muslime unter einem – wenn auch nicht ausgesprochenen – Generalverdacht. Gerade junge Muslime, die hier geboren und aufgewachsen sind, erwarten, eine Heimat geboten zu bekommen, die ihnen vermittelt, „ihr gehört selbstverständlich zu uns“.
Wodurch finden Sie inneren Frieden?
Durch meine selbstkritische Haltung zu mir selbst, die mir immer wieder meine Fehlbarkeit und Endlichkeit vor Augen hält. Am Ende des Tages lasse ich mich voller Vertrauen auf seine Liebe in die Hände Gottes fallen. Anders gesagt, es ist mein Glaube an den liebenden Gott, der mir inneren Frieden schenkt. Denn Glaube ist letztendlich Vertrauen.
Sie vertreten eine liberale Ausrichtung des Islam. Müssen Sie sich trotzdem häufig rechtfertigen?
Ich werde an verschiedenen „Fronten“ herausgefordert. Einerseits versuche ich zu vermitteln, dass der Islam viele Gesichter hat, mache mich aber für den barmherzigen Islam stark. Andererseits möchte ich dieses Bild eines dialogischen Gottes, der sich nur für den Menschen interessiert und nicht für sich selbst, stark machen. Muslime, die nur an Macht interessiert sind, haben ein großes Problem mit dem großen Zuspruch, den ich bekomme. Sie sehen darin eine Bedrohung für ihre Machtansprüche.
Sie sind gegen die wortwörtliche Auslegung des Koran. Was denken Sie, wenn Sie Bilder mordender IS-Truppen in Syrien und dem Irak sehen?
Ich denke dabei vieles. Die Dinge sind zu kompliziert, dass es hier nur um die Art der Auslegung des Korans geht. Gewalt verursacht Gegengewalt. Wenn wir über die IS-Truppen reden, sollten wir die Geschichte von Beginn an erzählen und uns fragen, wer hat Gewalt in diese Region gebracht? Die US-Truppen legitimierten vor über zwölf Jahren ihren Einsatz im Irak mit einer Lüge über Massenvernichtungswaffen, die sie selbst zugegeben haben. Die Amerikaner haben Stützpunkte in Saudi Arabien und Katar, wo diktatorische Regime herrschen. Niemand scheint ein ehrliches Interesse an einer Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern zu haben. Die Menschen im Nahen Osten sind sehr frustriert und wir Europäer exportieren mit den Amerikanern nicht Demokratien und Menschenrechte, wie wir behaupten, sondern an erster Stelle Waffen. Über unsere Doppelmoral in der Außenpolitik müssen wir uns dringend unterhalten, bevor wir über den IS sprechen. Der IS ist nur ein Symptom, die Ursachen liegen woanders. Dennoch ist es, gerade für einen Theologen, sehr frustrierend zu sehen, wie die eigene Religion für Gewalt missbraucht wird. Ich erkenne meine Religion nicht mehr.
Wie kann ein gemäßigter Islam helfen, islamistischen Terror einzudämmen?
Wir müssen ein paar Positionen im innerislamischen Diskurs dringend überdenken. Dazu gehört an erster Stelle die Frage nach dem Verhältnis zu Andersgläubigen. Davon auszugehen, Muslime seien besser als Nichtmuslime, liefert schon den Kern von Gewalt. Solche Positionen hat nicht der IS erfunden, sondern sind zum Teil im Mainstream-Islam anzutreffen. Ein Islam, der alle Menschen, unabhängig von ihrer Weltanschauung, vor Gott würdigt, nimmt der Gewalt seine Grundlage. Mir ist wichtig, dass das Bild eines friedlichen Islam nur helfen kann, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind. Frustrierte Menschen, die das Gefühl haben, sie seien Opfer in ihrer Gesellschaft, suchen womöglich in einer Interpretation des Islam, die ihnen Überlegenheit vermittelt, einen Ausweg.
Wenn Islamisten aus Deutschland ausreisen, um am Heiligen Krieg teilzunehmen, haben dann – nicht nur, aber auch – lokale Geistliche versagt?
Wir können und dürfen nicht alle Geistlichen in einen Topf schmeißen. Diese Jugendlichen werden von salafistischen Geistlichen radikalisiert. Wenn Jugendliche Zuflucht in solchen radikalen Milieus finden, haben mehrere Institutionen versagt. Wir als Gesellschaft haben versagt, diese Jugendlichen, die meist Schul-Abbrecher sind und sozial am Rand stehen, aufzufangen. In salafistischen Milieus finden sie Anerkennung. Moscheegemeinden, die keinen Wert auf Jugendarbeit legen oder von denen sich die Jugendlichen nicht angesprochen fühlen, weil die Imame kein Deutsch sprechen oder weil sie mit der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen nicht vertraut sind, haben auch einiges versäumt.
Wie bewerten Sie den Auftritt einer salafistischen Gruppe als „Scharia-Polizei“ in Wuppertal?
Als verzweifelten Hilferuf nach Aufmerksamkeit und Geltung. Das sind Menschen, die sich als Verlierer unserer Gesellschaft fühlen und versuchen, mit allen Mitteln auf sich aufmerksam zu machen. Wir brauchen Strategien, diesen Menschen zu helfen, sich konstruktiv zu entfalten.
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