Wann ist ein Mensch schön? Diese Frage haben die Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten immer unterschiedlich beantwortet. Zu Zeiten des Barocks waren es üppige Rundungen, in den 1960ern eher die dünne androgyne Form. Mal galt bleiche Haut als Inbegriff der Schönheit, heute zeigt man sich lieber braungebrannt. Und immer hat der Mensch ein wenig nachgeholfen – mit Puder, Lehm, Farbe, Tinkturen, Cremes. Dabei wird es aber heutzutage nicht belassen. Optimiert wird der Körper an vielen Stellen. Implantate für die Brust, eine neue Nase, wenn die alte nicht zum Wunschbild passt. Das Ganze wird auch noch als Kunst vermarket. Was bei uns Schönheits-OP heißt, heißt im Englischen nicht mehr plastic surgery, sondern body sculpting. Körper Skulptur. Wobei dies keine Erfindung des 20. oder 21. Jahrhunderts ist.
Attraktion, Religion, Tugend
Bei den Mursi in Äthiopien wurde schon viel früher die Unterlippe aufgeschnitten und langsam durch immer größere Tonteller gedehnt. Seit den Völkerschauen von Hagenbeck sind Trägerinnen von „Lippentellern“ eine Attraktion. Damals als Abart, heute touristisch. Was Hagenbecks Zeitgenossen als primitiv ansahen, wird heute leicht abgewandelt überall in der westlichen Welt praktiziert. Aufgespritzte Lippen, sogenannte Russian Lips sind schon ab 400 Euro zu haben und gehören in einigen Kreisen zum Schönheitsstandard. Im Mittelalter wurden diese Standards durch religiöse Überzeugungen beeinflusst. Tugenden wie Bescheidenheit und Demut machten eine Frau schön.
Innere Schönheit zählt heute jedoch wenig. Seit dem Aufkommen digitaler Medien und sozialer Plattformen werden Schönheitsidealeimmer stärker von Prominenten, Influencer:innen und Online-Communities vorgegeben. Wenn der gottgegebene Körper dem gerade gängigen Ideal nicht entspricht, sorgt eine OP für die gewünschte Form.In Brasilien ist das Schenken neuer Brüste oder einer neuen Nase zum 16. Geburtstag eines Mädchens nichts Ungewöhnliches. Das Land führt weltweit bei Schönheitseingriffen. Der BBL (Brazilian Butt Lift) ist global bei modebewussten Frauen ein Begriff. Bei dieser Praxis wird Fett vom Bauch abgesaugt und in den Po gespritzt. Vorbild hier: Kim Kardashian. Von dem Schönheitswahn sind nicht nur Frauen betroffen. Auch Männer lassen sich den Wunschkörper operieren. Der neueste Trend sind Muskelimplantate: Wozu sich kräftige Oberschenkel oder Waschbrettbauch mühsam antrainieren, wenn es eine Operation schneller tut?
Zu allen Zeiten gab es Ideale, denen nachgeeifert wurde. Doch noch nie spielte die Äußerlichkeit eine so große Rolle wie heute. Während die Zahl der Schönheits-Operationen zunimmt – in Deutschland gab es 2021 mehr als doppelt so viele wie noch zehn Jahre zuvor – wird gleichzeitig Diversität, Individualität, Selbstakzeptanz und Authentizität gepredigt, Body Positivity und die Anerkennung von Schönheit in all ihren Formen. Welch ein Widerspruch! Je reicher eine Gesellschaft wird, desto mehr nehmen kosmetische Eingriffe zu.
Schönheit oder Bildung?
Sich aber ohne gesundheitlichen Grund einer OP auszusetzen ist riskant. Wer die Folgen einer Nervenschädigung durch eine medizinisch indizierte OP erlebt hat, kann sich nur über Menschen wundern, die sich ohne Erkrankung, Verletzung oder Entstellung im Namen der Schönheit aufschneiden lassen. Vielleicht kommt noch die Zeit, in der alle zufrieden mit ihrem Aussehen sind und Geld statt für chirurgische Schönheitsoptimierung für wirklich wichtige Dinge ausgeben wie Naturschutz oder Bildung für alle. Oder für den Weltfrieden. Tina, träum weiter.
UNHEIMLICH SCHÖN - Aktiv im Thema
adipositas-gesellschaft.de/experten-plaedieren-fuer-body-neutrality-statt-body-positivity-wie-koerperbilder-adipositas-und-essstoerungen-beeinflussen-wissenschaftlicher-ko | Der Beitrag der Adipositas-Gesellschaft vergleicht die Konzepte Body Positivity und Body Neutrality.
tk.de/techniker/magazin/life-balance/wohlbefinden/body-shaming-2074152?tkcm=ab | Beitrag der Techniker Krankenkasse über den Schutz vor Body-Shaming.
bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30510/schoenheit-erfolg-macht | Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung über „Körperkult und Schönheitswahn“.
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Gelassen ernst
Intro – Unheimlich schön
Ist Schönheit egal?
Teil 1: Leitartikel – Zwischen Body Positivity und Body Neutrality
„Schönheit ist ein zutiefst politisches Thema“
Teil 1: Interview – Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Lechner über Schönheitsdruck
Im eigenen Körper durchs Leben
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Filmreihe „Body Positivity“ vom Medienprojekt Wuppertal
„Ausstrahlung ist mehr als die äußere Erscheinung“
Teil 2: Interview – Psychoanalytikerin Ada Borkenhagen über Schönheitsoperationen
Damit eine grausame Tradition endet
Teil 2: Lokale Initiativen – Düsseldorf: Verein stop mutilation gegen weibliche Genitalbeschneidung
11 Millionen Eitelkeiten
Teil 3: Leitartikel – Fitnessstudios: zwischen Gesundheitstempeln, Muckibuden, Selbstverliebtheiten und Selbstgeißelung?
„Sport wird instrumentalisiert, um positive Emotionen zu empfinden“
Teil 3: Interview – Sportpsychologin Jana Strahler über Sportsucht
Leistung ist nicht alles
Teil 3: Lokale Initiativen – Initiative an der Deutschen Sporthochschule fördert psychische Gesundheit
Ungefilterte Schönheit
Regeln für Influencer – Europa-Vorbild: Frankreich
Märchenspiegel 2.0
Vom Streben nach konformer Schönheit in feministischen Zeiten – Glosse
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 1: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 2: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 3: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Glücklich erinnert
Teil 1: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 3: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Das Spiel mit der Metapher
Teil 1: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 3: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 1: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Stimmen des Untergangs
Teil 1: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?