Das Buch mit dem fleckigen beigen Leinenumschlag bekam ich von meiner Mutter zum 18. Geburtstag geschenkt. Sie wiederum hatte es aus dem Nachlass ihres Vaters. Mein Großvater versteckte es von 1933 bis 45 hinter Goethe und Schiller in seinem Bücherschrank, packte es wie andere lebenswichtige Habseligkeiten in seinen Koffer, als er 1946 aus Schlesien weg musste, nach Westfalen kam. Obwohl es modrig roch, faszinierte mich das Buch sofort. Es birgt eine bewegte Geschichte und es erzählt eine bewegende Geschichte. Der Soldat Paul Bäumer erlebt die Schrecken des Ersten Weltkriegs an der Westfront. Um ein paar Meter Feindesland zu erobern, schicken Generäle tausende von jungen Männern in den Tod. Sie werden von Maschinengewehrsalven niedergemäht, von Granaten zerfetzt oder ersticken qualvoll, weil ihre Lungen vom Giftgas verätzt sind. Auf manchen Schlachtfeldern vor Verdun sterben pro Quadratmeter zehn Soldaten. Auch Paul Bäumer, die Hauptperson des Romans, wird kurz vor Ende des Krieges tödlich getroffen, „an einem Tag, der so ruhig und so still war, dass der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“ Mit diesem Satz endet der Roman. Auch mein Großvater war als junger Mann im Ersten Weltkrieg an der Westfront, erzählte davon aber nie viel. Er verwies nur auf das Buch: „Lest es, dann wisst Ihr, wie es war.“
Viel wird in diesem Jahr von dem Ersten Weltkrieg zu lesen, zu hören und zu sehen sein. Neben Dokumentationen wird es auch Versuche geben, die politische Situation von 1914 neu zu bewerten, die Kriegsschuldfrage neu zu diskutieren. Musste Deutschland, weil es zu spät zur Nation wurde und deshalb zu wenig vom kolonialen Kuchen abbekommen hatte, zwangsläufig alle Bauklötzchen vor Wut umstoßen? Hätten Frankreich und England dem Kaiser mit dem verkrüppelten Ärmchen nicht mehr Freundlichkeit entgegenbringen können? Unabhängig von den Antworten auf diese Fragen muss festgestellt werden, dass das Deutsche Reich jenen Krieg begonnen hat. Wichtiger als die Kriegsschuldfrage mag für die heutige Zeit ein anderer Aspekt sein. Übereinstimmend berichten die Historiker von der damaligen Stimmung in Europa. Viele Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und England jubelten, als im August 1914 der Krieg ausbrach. Kaum waren warnende Stimmen zu hören. Die eigene Nation wirkte in der kulturellen Umbruchphase des frühen 20. Jahrhunderts als Orientierung. Sind wir da heute weiter? Wieder erleben wir eine kulturelle und wirtschaftliche Umbruchphase, die mit Verunsicherung weiter Bevölkerungsteile einhergeht. Die wachsende Popularität europakritischer, nationaler Positionen mag eine Reaktion auf drohende Wirtschaftskrisen sein. Ein offener Krieg in Zentraleuropa allerdings erscheint undenkbar.
Taugt die Geschichte insgesamt aber als Lehrstück für uns im 21. Jahrhundert? Der Krieg damals und die Kriege heute ähneln sich von ihrer äußeren Erscheinungsform überhaupt nicht. Das vom deutschtümelnden Schriftsteller und Philosophen Ernst Jünger beschriebene „Stahlgewitter“ hat nichts mit den hochtechnologischen Kriegen zu tun, die die USA und viele Staaten in Europa aktuell führen. Damals kämpften Nationen gegeneinander. Der Frontverlauf gab Auskunft über Sieg und Niederlage. Heute kämpfen hochentwickelte Staaten in fremden Ländern gegen lose organisierte bewaffnete Gruppen. Bodeneinsätze sind bei der NATO mittlerweile nicht mehr sehr populär. Lieber beschränkt man sich auf „chirurgische“ Eingriffe, bombardiert präzise oder exekutiert den Gegner mit ferngesteuerten Drohnen.
Auch hat sich die Rechtfertigung für kriegerische Handlungen verändert. Ging es im Kaiserreich noch um Ruhm und Ehre, wird heutzutage das Argument bemüht, der Bevölkerung eines Landes humanitären Schutz zu gewähren. Dass mitunter auch handfeste wirtschaftliche und militärstrategische Motive in den modernen Kriegen eine Rolle spielen und dass nach einem sogenannten humanitären Kriegseinsatz oft noch mehr Menschen gestorben sind als zuvor unter dem Despoten, erfährt der Zuschauer der Fernsehnachrichten nur selten und dann als Randnotiz.
Nach dem Ersten Weltkrieg humpelten die Überlebenden nach Hause. Einige Jahre wollte man in Europa nichts mehr vom Krieg wissen. Nach dem Zweiten Weltkrieg humpelten die Überlebenden wieder nach Hause. Einige Jahrzehnte wollte man in Europa nichts mehr vom Krieg wissen. Bis 1991 wurde die Bundeswehr im Ausland nur nach Naturkatastrophen zum Transport von Hilfslieferungen eingesetzt. Dann folgte im Rahmen des ersten Irak-Kriegs die Verlegung von Kampfjets in die Türkei. 1999 fielen erstmals nach Ende des Zweiten Weltkriegs deutsche Bomben – und zwar auf Jugoslawien. Inzwischen ist die Bundeswehr mit 16 Auslandseinsätzen weltweit aktiv. Auch ist Deutschland mittlerweile eine der führenden Rüstungsexportnationen weltweit. Wenn in diesem Jahr also von regierungsamtlicher Seite dem hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs gedacht wird, von dem daraus resultierenden Auftrag gesprochen wird, für den Frieden in Europa und in der Welt einzutreten, dann dürfen sich im Reichstag guten Gewissens die Balken biegen.
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