Der Taxifahrer hat die Handtasche abgezockt, ein paar Klau-Kids kurz darauf auch noch das Handy – so haben sich die beiden Schweden ihren Aufenthalt in der Stadt der Liebe und Romantik wahrlich nicht vorgestellt. Kein Wunder, der diebische Chauffeur hat sie mitten in der finstersten Banlieue abgesetzt. Hier hält kein Taxi und mit solchen „Lappalien“ wie ihren gibt sich die Polizei schon lange nicht mehr ab. Wie gut, dass Vorstadt-Gangster Raoul wenigstens noch ein Airbnb-Zimmer für die Nacht anbieten kann.
Es dauert keine fünf Minuten, da ist klar, dass in der Fassung von Jaques Offenbachs Erfolgsoperette „Pariser Leben“ kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Regisseur Holger Potocki hat den Text von 1866 komplett umgekrempelt und dem spielfreudigen Hagener Ensemble auf den Leib geschneidert.
Gründlich aktualisierte Operettenfassungen sind schon seit einigen Jahren eine ausgesprochene Spezialität des Hauses. Mit dem Panoptikum einer schrillen Pariser Subkultur aber hat sich das Theater Hagen noch einmal selbst übertroffen. Wie so oft prägt der besondere Humor einer Ausstatterin ganz klar auch die Produktion: Lena Brexendorff hat einen Hang zum Comic und zum Skurrilen und würzt ihre Bühnenbilder und Kostüme gerne mit kleinen Zitaten, die einfach nur Spaß machen. So tummeln sich im Pariser Nachtleben unter anderen Karl Lagerfeld („Möchten Sie ein Video von meiner Katze sehen?“), Asterix mit Hinkelstein und zu allen unpassenden Gelegenheiten ein mannsgroßes Croissant, das mit Zigarette und krächzender Stimme fragt: „Hast Du mal Feuer?“
Mit Regisseur Potocki hat sie sich offensichtlich zu einem neuen Dream-Team fürs komische Musiktheater zusammengefunden. Letztlich aber gerät der Abend auch so köstlich, weil die Solisten allesamt ihre Stärken ausspielen können: allen voran Kenneth Mattice, der als Baron von Gondremarck auf sexuelle Abenteuer und Ausschweifungen aus ist. Seine Orgie bekommt er dank Raoul, der unterdessen zu „Je t‘aime“ für die Baronin „mit dem Popo wackelt“. Richard van Gemert, der dabei zu völliger Hochform aufläuft, und Veronika Haller spielen die skurrile Erotikszene, die ständig von irgendwem unterbrochen wird, mit Bravour. Auf dem Höhepunkt erscheint schließlich Marilyn Bennett als Tante Quimper-Karadec – und führt ihren ebenso bärtigen wie bärigen Sklaven „Gonzo“ in ledernen Hotpants an der Leine. Schriller geht‘s nimmer – und ist irre komisch.
Musikalisch wagen sich Regie und Kapellmeister Rodrigo Tomillo übrigens auch an Veränderungen. So darf Marilyn Bennett den Jazzstandard „Midnight in Paris“ einfügen, das wandelnde Croissant bekommt einen kurzen, aber spektakulären Auftritt mit verzerrter E-Gitarre und kurz vor dem Ende erklingt sogar Yann Tiersens Amélie-Filmmusik von einem Trio direkt auf der Bühne. Das funktioniert durchaus und schmälert auch nicht den Spaß an der Offenbach‘schen Originalmusik, die der Spanier Tomillo mit Temperament und Leichtigkeit dirigiert – an der Spitze eines überaus gut aufgelegten Orchesters.
Von der zeitgemäßen Renaissance der Operette ist in den letzten Jahren viel geredet worden, wirklich gelungen ist sie nur selten. Wer wissen will, wie man das Genre nachhaltig aus dem Museum holt und wiederbelebt, sollte nach Hagen fahren. Um mit Metella, dem leichten Mädchen aus des schwedischen Barons Träumen (herrlich rotzig gespielt von Kristine Funkhauser), zu sprechen: „Hier läuft das anders. Wir sind hier nicht in Bullerbü.“
Dieses rustikale „Pariser Leben“ ist ein echter Knaller, dessen Sog man sich kaum entziehen kann. Wer bislang dachte, Operetten seien langweilig, wird gründlich eines Besseren belehrt.
„Pariser Leben“ | R: Holger Potocki | 26.4. 19.30 Uhr, 5.5. 15 Uhr, 12.5. 18 Uhr | Theater Hagen | 02331 207 32 23
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