Sieben Jahre lang hat Regie-Altmeister Dietrich Hilsdorf nicht mehr in Essen inszeniert. Nun ist der 71-Jährige zurück – und hat für seine 20. Produktion ein Stück vorgesetzt bekommen, das eigentlich gar nicht für eine Bühneninszenierung vorgesehen war: das barocke Oratorium „Kain und Abel oder Der erste Mord“ von Alessandro Scarlatti.
Zum Glück, muss man wohl sagen, ist es ihm vorgesetzt worden. Viele junge, weniger erfahrene Regisseure hätten sicher ihre liebe Not gehabt ob diesem eklatanten Mangel an äußerer Handlung. Etwa anderthalb Stunden lang passiert kaum etwas. Adam und Eva sind samt ihrer Söhne Kain und Abel in ihrem sichtlich verrottenden Barockschlösschen (Bühne: Dieter Richter) versammelt – just nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies. Als musikalische Reminiszenz an die unerzählte Vorgeschichte lässt Hilsdorf Steve Wonders entspannt-beschwingtes 70er-Jahre-Instrumentalstück „The First Garden“ einspielen, bis der Eiserne Vorhang zur Bühne aufgefahren ist. Man muss den Titel dieses Musikstücks nicht unbedingt kennen: Die lebhaften Vogelgesänge eines tropischen Regenwaldes sprechen für sich. Der musikalische Stilbruch – zwischen Scarlatti und Wonder liegen immerhin rund 270 Jahre – ist indes überdeutlich. Aber das ist bloß ein Gag zur Einstimmung, den die einen lustig finden, die anderen eher überflüssig.
Zur biblischen Urfamilie, die sich unterdessen zum Diner auf der Bühne eingefunden hat, gesellen sich noch Gott und Teufel höchstpersönlich. Vom Librettisten Pietro Ottoboni noch als körperlose Stimmen vorgesehen, lässt Hilsdorf sie ganz konkret Gestalt annehmen - und das durchaus mit einer gehörigen Portion Ironie. Xavier Sabata gibt mit Bart und langem weißen Nachthemd – darüber eine goldene Jacke (Kostüme: Nicola Reichert) - einen Klischee-Gott, der allerdings gar nicht so klingt. Denn Sabata singt als Countertenor mit hoher, zeitweise geradezu ätherisch anmutender Kopfstimme.
Baurzhan Anderzhanov steckt als klanglich wesentlich handfesterer Teufel mit dunklem Bass im Kostüm einer barocken Maitresse mit weit ausgestelltem Reifrock, wie er am Hofe Ludwig XIV. getragen wurde. Auch beim zentralen, tragischen Brüderpaar gibt es solche Travestie: Erscheint der glockenklare Countertenor Philipp Mathmanns bei Abel noch insofern plausibel, als er ja den Unschuldigen verkörpert, überrascht die Besetzung des brudermörderischen Kain mit der Mezzosopranistin Bettina Ranch schon eher. Ursprünglich von Scarlatti vorgesehen war die Besetzung genau andersherum. Doch Mathmann bewältigt tatsächlich seine extrem hohe Sopran-Partie sehr wohlklingend, und Bettina Ranch hat einen ordentlich dunkel grundierten Stimmumfang. Sie gibt – auch szenisch – einen überzeugenden Kain.
Wunderbar ergänzt wird das Gesangsensemble von Tamara Banjašević mit mütterlich weichem Soprantimbre als Eva und dem klangschönen Tenor Dmitry Ivanchey als Adam. Musikalisch ist dieses zwei Stunden zwanzig lange Oratorium (ohne Pause) unter der überaus kundigen Leitung von Rubén Dubrovsky ein Genuss. (Kammer-)Orchester und Continuo-Gruppe sitzen räumlich getrennt und beide gut sichtbar im halb hochgefahrenen Graben. Akustisch wie optisch ist das eine hervorragende Lösung. Und das muss man Hilsdorf, dem Altmeister der Opernregie, am Ende lassen: Langweilig wird es tatsächlich nie an diesem doch recht langen Abend.
„Kain und Abel“ | 29.2. 19 Uhr, 4., 13., 20.3. 19.30 Uhr, 8.3. 18 Uhr, 3.5. 16.30 Uhr | Aaalto-Theater Essen | 0201 81 22 200
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