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Claudia Weber
Foto: Heide Fest

„Leitkultur bedeutet Unterwerfung“

02. April 2019

Historikern Claudia Weber über die Bedeutung von Kultur in Europa

engels: Frau Weber, gibt es eine europäische Kultur?
Claudia Weber: Die Kulturwissenschaft aus der ich komme versteht Kultur, mit Max Weber gesprochen, als Gesamtheit der Hervorbringungen des Menschen. Also all das, was wir tun, ist per se kulturelle Deutung, Handlung und somit Kultur. Ob es sich dabei um die Kultur des Krieges handelt oder die Kultur des Theaters oder der Drogen oder des Gartens, ist dabei irrelevant. Wir bewerten es nicht. Natürlich ist Kultur immer an Raum und Zeit gebunden und in diesem Kontext zu verstehen. Insofern bezeichnet „europäische Kultur“, alle Hervorbringungen des Menschen in dem Raum, den wir als Europa bezeichnen.

Brauchen wir also keine „Leitkultur“ in Europa?
Ich muss das mit einer Gegenfrage beantworten: Was sollte das denn sein? Wer gibt die denn vor? Alle weißen Männer 60 plus? Oder alle Deutschen? Oder alle Franzosen, alle EU Parlamentarier, alle Kinder? Mit diesem Begriff kann ich nichts anfangen. Es gibt natürlich Traditionen, Rituale und uns vertraute Symbole.  Wir leben in bestimmten historischen Kulturbezügen, die uns Orientierungen geben, das sagen auch Kulturwissenschaftler. Aber Leitkultur hat etwas mit Hegemonie zu tun, mit Unterordnung und Unterwerfung. Das funktioniert in der Kultur nicht.

Wenn Kultur alles ist, ist es kaum verwunderlich, dass sich in der EU so schwer Konsense finden lassen, oder?
Sehr schön lässt sich das am Haus der Geschichte erkennen. Das sollte in Brüssel entstehen und die gesamte europäische Geschichte abbilden. Dieses Projekt zog sich über Jahre hinweg, denn man konnte sich nicht darauf einigen, was alles einfließen sollte. Es war als Prestigeobjekt konzipiert. Letzten Endes wurde es mit sehr geringer Aufmerksamkeit eröffnet. Man war mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Das Beispiel zeigt, wie schwierig oder unmöglich es ist, sich auf einen gemeinsamen Geschichtskanon zu einigen. Wie sollte das auch funktionieren, wenn es schon Schwierigkeiten seitens Frankreichs oder auch seitens Deutschlands gibt, sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen? Das würde ja dazugehören.

Sie beschäftigen sich mit den Ambivalenzen der Europäisierung. Was bedeutet das?
Europäisierung meint die Durchsetzung einer bestimmten Ordnung auf Basis der Aufklärung und Moderne. Im Forschungsprojekt untersuchen wir die Widersprüche, die sich zwischen realen Handlungen und den Idealen der Aufklärung auftun. Denken wir an Katastrophen wie den Holocaust oder Kolonialismus. Und wir behaupten, dass diese Widersprüche der Europäisierung inhärent sind und nicht, wie häufig behauptet, nur unerwünschte Folgeerscheinungen sind. Wir können das nicht länger als unerwünschten Nebeneffekt beschreiben, sondern müssen akzeptieren, dass sie ein Teil unserer Kulturgeschichte sind. Europäisierung überschreitet Grenzen und zieht gleichzeitig neue. Frieden schaffen bedeutete zu oft, anderswo Krieg zu produzieren. Freiheit nach der französischen Revolution bedeutete nicht Freiheit für die Sklaven in den Kolonien. Wir beziehen uns hier auch auf die Postcolonial Studies, die herausgearbeitet haben, wie  die dunklen Seiten Europas oft an die Peripherie verlagert wurden, als ob es die Probleme nur dort gäbe.  So ist es aber nicht.

Zu Ihren Forschungsschwerpunkten zählt Osteuropa. Ist das so ein Ort?
Ein gängiges Narrativ über den Osten ist, dass es dort historisch bedingte Demokratiedefizite gäbe, die dazu führen, dass die Anfälligkeit eines Rückfalls in populistische Strukturen größer ist. Das bedient die Wahrnehmung der Zweitklassigkeit und Rückständigkeit. Im Ambivalenzenprojekt würden wir sagen, dass die Problematik der Demokratiedefizite und das Erstarken des Populismus, die nach Osteuropa verlagert wird, eigentlich die eigene Problematik ist. Man lagert die Defizite in die Peripherie aus, um nicht die eigenen offen zu legen und erhält so die Selbstwahrnehmung des Ideals “Europa“ aufrecht: Westeuropa als der Hort der Aufklärung, des Fortschritts, während die anderen zurückbleiben.

Und das ist nicht der Fall?
Die These unseres Forschungsprojekts ist, dass diese vermeintliche Andersartigkeit Osteuropas von Westeuropa nur zugeschrieben wird. Man kann das sehr schön an der Berichterstattung der letzten Jahre über den neuen Nationalismus und den Rechtspopulismus in Osteuropa sehen. Das ist sehr stark in der Presse. Damit wird der Andersartigkeits-Stereotyp bedient. Gleichzeitig haben wir aber sehr wenig über Dänemark gehört. Es hat lange gedauert bis man anerkannt hat, dass es diese Entwicklungen in Westeuropa genauso gibt. Wir waren schnell dabei zu sagen, in Osteuropa gäbe es keine Tradition der Demokratie, weswegen sie nun zurückfallen. Dem würde ich widersprechen und erstmal nach Westeuropa sehen. Vergleicht man die Lagen genau, verwischen die Unterschiede relativ schnell.

Stagniert Europa in der Aufarbeitung der eigenen Widersprüche?
Ich glaube, dass eine offene Diskussion dieser Ambivalenzen wünschenswert wäre. Die Konfrontation mit der historischen und gegenwärtigen Ambivalenz ist notwendig für den Fortbestand der EU und könnte ihr zu neuem Glanz verhelfen. Es wäre auch wünschenswert, ein wenig mehr Gelassenheit zu zeigen. Wenn wir diese Ambivalenzen immer verdrängen oder nicht thematisieren, werden sie uns von den anderen, denjenigen, die die EU anzweifeln, die die Demokratie anzweifeln, ohnehin präsentiert. Derzeit befindet sich die EU in einer ständigen Verteidigungshaltung, anstatt die eigenen Fehler anzunehmen und zu sagen: Ja es gibt diese Ambivalenzen. Und dennoch! Es gibt diese Fehler. Und dennoch! Das ist eine offensivere Haltung, die etwas bewegt im Gegensatz zu der Verteidigungshaltung, die stur daran festhält: Wir sind doch das Ideal. Das würde der gegenwärtigen Diskussion guttun. Ich sehe es momentan leider nicht.

Was ist heute eine Ambivalenz, die sie innerhalb Europas beobachten?
Besonders fällt mir eine historische Ambivalenz auf, die wir auch heute noch spüren: Einerseits der Wunsch nach Homogenisierung, nach einer existenzialistisch festgelegten europäischen Kultur, an der wir uns orientieren können, die beschreibt wer dazu gehört und wer nicht – und andererseits der Anspruch von Europa von universellen Menschenrechten und der Akzeptanz der Heterogenität von Individuen.

Sind die Unterschiede in Europa ein Problem?
Nicht die Unterschiede sind das Problem, sondern die Hierarchisierungen, die wir mit diesen Unterschieden verbinden. Also, dass wir sagen diese Unterschiede stellen eine gewisse Rangordnung dar. Das gilt für alle Bereiche der Kultur. Diese Rangordnung kann man nur über ständige kritische Infragestellung  auflösen.


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Interview: Lidia Polito

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