engels: Herr Grässlin, „wird Deutschland auch am Hindukusch verteidigt“, wie der damalige Verteidigungsminister Peter Struck im Jahr 2002 feststellte?
Jürgen Grässlin: Das ist eine Frage der Definition. Wenn Sie meine Tätigkeit als Soldat in den späten 70er-Jahren sehen – da wurde nach Artikel 87 a des Grundgesetzes verfahren, worin es heißt, der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.Mit seinem Statement hat der SPD-Verteidigungsminister Struck das vormalige Verteidigungssystem auf den Kopf gestellt. Indem man nicht mehr das Territorium der Bundesrepublik Deutschland als maßgebliches Kriterium genommen hat, sondern plötzlich anfing, Tausende von Kilometern weit entfernte Kriegsschauplätze auch als deutsches Interessengebiet zu definieren. In Mali sind zwar auch deutsche Soldaten im Kriegseinsatz, aber nicht einmal die heutige Bundesregierung kommt darauf, Mali als Verteidigungsfall zu proklamieren.
Afghanistan beispielsweise war ein Angriffskrieg, ergo ein Bündnisfall für Mitgliedsländer der NATO.
Der NATO-Vertrag definiert zwar den Bündnisfall, doch den Automatismus für jeden NATO-Mitgliedstaat mitkämpfen zu müssen gibt es nicht, auch wenn er von der deutschen Bundesregierung fälschlicher Weise immer wieder ins Spiel gebracht wird. Diesem Druck der NATO muss kein Mitgliedsland nachgeben. Vielmehr entscheidet jede Regierung eines Landes eigenständig darüber, wie die Unterstützung aussieht. Die Hilfe könnte also auch humanitär sein, zum Beispiel in Form von Sanitätseinheiten und medizinischem Material. Damit würde man den Verletzten helfen – sprich der Zivilbevölkerung, die in weiten Teilen unter diesen Kriegen leidet.
Was sind die Hauptkritikpunkte an Auslandseinsätzen der Bundeswehr?
Diese unglaublichen Investitionen von mehreren Tausend Milliarden US-Dollar in die Kriege in Afghanistan, Libyen, den Irak und Syrien waren nicht nur verschwendetes Geld, sondern auch extrem kontraproduktiv. Nach jüngsten Untersuchungen hat sich die Zahl der Terroristen in Afghanistan seither verfünffacht. Und der Widerstand wird weiter wachsen. Zugleich fehlt das Geld, um den Aufbau dieser Länder und die Stärkung der zivilen Infrastruktur in der Form zu gewährleisten, damit die Menschen vor Ort ein würdiges Leben führen können, Arbeit finden und eben nicht zur Flucht getrieben werden.
Auch deutsche Kriegswaffen sollen im Ausland für Frieden und Wohlstand sorgen. Was sagen Sie?
Hierzulande existieren die politischen wie rechtlichen Vorgaben, um, seitens der Bundesregierung, Waffenexporte in Krisengebiete vollständig zu unterbinden. Das bedeutet auch die Verpflichtung, keinerlei Waffenexporte an menschenrechtsverletzende Staaten zu genehmigen. Hier ist eine immensgroßeDiskrepanz festzustellen: Zwischen der politischen Proklamation einer Bundesregierung, die behauptet, sie verfolge ein humanistisches, christliches Weltbild und einer profit- und machtorientierten Rüstungsexportpolitik. Diese erklärt sich durch den massiven Einfluss eines militärisch-industriell-politischen Komplexes. Dieser wirkt leider sehr erfolgreich und sorgt dafür, dass unter den Top-Ten-Empfängerländern der Bundesrepublik Deutschland eben doch Staaten wie Algerien,Ägypten, Saudi Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate auftauchen. Mit Waffenexportgenehmigungen an derlei Staaten leistet die Bundesregierung Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen und zu Mord.
Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden?
Als Sofortmaßnahme fordert unsere Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“ einen vollumfänglichen Exportstopp in Krisen- und Kriegsgebiete. Bundeswehrvertreter, mit denen ich oftmals in Diskussionsrunden auf dem Podium sitze, sehen das vielfach genauso. Denn sie haben als kämpfende Einheiten die Erfahrung gemacht – in den 90ern in Somalia und bis heute in Afghanistan – , dass sie gegen Terroreinheiten kämpfen, die bis an die Zähne mit, in Deutschland oder in deutscher Lizenz im Ausland gefertigten, Kriegswaffen hochgerüstet sind. In den vergangenen Jahren kämpfen deutsche Soldaten in Afghanistan mit dem Sturmgewehr G36, das unter extremen Hitzebedingungen nicht immer optimal funktioniert, während die Taliban mit G3 aus pakistanischer Lizenzfabrikation ausgerüstet sind. Deren Gewehre sind zwar älter, jedoch unter nahezu allen klimatischen Bedingungen funktionstüchtiger.
Kritisiert wird zudem die Ausdehnung des Verteidungsbegriffs für Auslandseinsätze. Warum?
Hinter der Erweiterung des Verteidigungsbegriffs stecken primär Machtinteressen innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft. In der NATO ist es entscheidend, welches Land die größte Bereitschaft zeigt, militärisch aufzurüsten und ggf. auch gewaltsam zu intervenieren und es ist nicht entscheidend, wer sich dem humanistisch-christlichen Weltbild und damit der Abrüstung und Entmilitarisierung verschrieben hat. Daran krankt das UN-Sicherheitssystem bereits im Kern.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Rolle Deutschlands in der NATO?
Die Jahre zwischen 2019 bis 2021 werden eine absolute Schlüsselzeit. Hier wird sich entscheiden, wohin die Bundesrepublik Deutschland politisch gelenkt wird. Denn die Forderung von Donald Trump, alle NATO-Partner mögen ihr Bruttoinlandsprodukt auf zwei Prozent für NATO-investigative Ausgaben anheben – das ist im Übrigen auch, was führende Repräsentanten von CDU/CSU und SPD unterschrieben haben – würde dazu führen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihren jetzigen Militäretat von jetzt schon rund 45 Milliarden Euro auf letztlich rund 70 Milliarden steigern müsste. Für die nächsten Jahrzehnte würde das einen deutlich spürbaren Abbau im Bildungs- und Gesundheitsetat bedeuten. Diese Fehllenkung beträfe beispielsweise bundesweit schulische Einrichtungen ebenso wie Pflegeheime und Hospize – wohlgemerkt zugunsten der Beschaffung weiterer Kriegswaffen und Rüstungsgüter und der Stärkung der Bundeswehr und damit auch der der Auslandseinsätze. Genau das darf nicht passieren. Gegen diese Fehlsteuerung müssen die Menschen zu Abertausenden demonstrieren.
Sie favorisieren friedenserhaltende Missionen der Bundeswehr?
Da Deutschland inzwischen von Freunden umzingelt ist, hätten wir jetzt die historisch einmalige Chance, uns tatsächlich den Krisenherden im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika zuzuwenden. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten gilt, die Bundesrepublik global als Friedenskraft zu stärken. Wir sollten dazu beitragen, dass wir die verstärkt auftretenden Klimakatastrophen und deren dramatische Folgen ernsthaft angehen – zugunsten der Menschen, die ansonsten Opfer der Aufrüstungs- und Militarisierungspolitik werden.
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