Sie ist eine der am negativsten besetzten Sagengestalten der Antike: Medea, die „ratwissende“ Königstochter aus dem kaukasischen Kolchis, Ehefrau des Ober-Argonauten Jason – und Mörderin ihrer Kinder. Medea tötet sie, nachdem sie samt dem Ehemann zur Nebenbuhlerin Kreusa übergelaufen sind. Über die genaue Motivation waren die Dichter unterschiedlicher Auffassung: Euripides meinte, Medea habe ihre Kinder durch den eigenen Mord vor feindlicher Rache bewahren wollen. Franz Grillparzer, der vor knapp 200 Jahren die Medea-Sage in seiner Dramen-Trilogie „Das Goldene Vlies“ aufgriff, ging sogar noch einen Schritt weiter: Seine Medea will ihre Kinder durch den Tod aus dem Jammertal des Lebens an sich erretten.
Als der Komponist Aribert Reimann 2006 von einem Dramaturgen auf den Grillparzer-Stoff gestoßen wurde, erkannte er darin etwas, wonach er lange gesucht hatte: ein weibliches Pendant zu seinem Opern-König Lear, mit dem er 1978 mit Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle seinen internationalen Durchbruch erlebte. Ein Kompositionsauftrag der Wiener Staatsoper verhalf dem Werk zur Entstehung. 2010 war die Uraufführung. Es folgten Frankfurt, Tokio, Berlin – und nun auch Essen. Regisseur Kay Link hat eine insgesamt recht zurückgenommene Neuinszenierung geschaffen – in der etwa der Mord an den Kindern nicht direkt zu sehen ist, der genaue Ablauf gewissermaßen in der Schwebe bleibt. Das Ehedrama ist in leichter Abstraktion in die heutige Zeit verpflanzt worden. Ausstatter Frank Albert hat dazu die Kulisse einer modernen Villa gewählt.
In der Titelpartie ist mit Claudia Barainsky die Besetzung der deutschen Erstaufführung in Frankfurt und eine intime Kennerin der Reimann‘schen Opernsprache zu erleben. Sie zeichnet sich vor allem durch ihre Melismen, also die Verteilung einzelner Silben und Vokale über mehrere Töne aus. Den Sängern verlangt das eine Vielzahl komplizierter Verzierungen ab. Barainsky ist ihre Partie allerdings merklich in Fleisch und Blut übergegangen. Sie singt sie mit erstaunlicher Natürlichkeit. Liliana de Sousa verkörpert mit ihrem klaren Mezzotimbre und mit gestochen scharfen Koloraturen das Glitzernde ihrer Luxuswelt. Bariton Sebastian Noak als Jason und Rainer Maria Röhr als Kreon singen virile, aber doch elegante Partien, die im Kontrast zum arrogant auftrumpfenden Countertenor von Hagen Matzeit als Boten stehen. Marie-Helen Joël wiederum strahlt als Amme mit ihrem schönen Timbre viel mütterliche Wärme aus.
Reimanns Tonsprache ist in einer Zeit, in der viele Opernhäuser ihre Neue-Musik-Quote am liebsten mit eingängiger Minimal-Music à la Philip Glass erfüllen, eine echte Herausforderung fürs Publikum. Die Orchesterklänge sind oft schroff und scharf, bieten nur wenige Ankerpunkte für gängige Hörgewohnheiten. Immerhin hat sich Reimann in diesem Spätwerk seine früher häufigeren Klangballungen etwas abgewöhnt. Das Klangbild ist überwiegend geradezu kammermusikalisch durchsichtig. Und die Zuordnung von Instrumenten zu handelnden Personen sind eindeutig: Medea wird begleitet von leisen Gongschlägen und charakteristischen Bläserfiguren, ihre Widersacherin Kreusa von Harfe und Celesta, König Kreon bekommt majestätische Blechbläser. Dirigent Robert Jindra fügt sich mit dem Orchester wie ein Erzähler in die Figurenkonstellation ein und vermeidet es strikt, die Sänger zu überdecken. Die Musik erfordert einige Mühe beim Hören – die Qualität der Aufführung belohnt dafür.
„Medea“ | R: Kay Link | Fr 10.5. 19.30 Uhr | Theater Essen | 0201 81 222 00
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