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Nachlese

31. Oktober 2013

Von Helden und Antihelden – Wortwahl 11/13

Wahnsinn, der helle Wahnsinn! Wer soll das denn alles lesen?! Allein dem Gastland Brasilien wurde auf der diesjährigen Buchmesse mit 117 literarischen Neuerscheinungen gehuldigt. Pi mal Daumen sind laut Deutscher Nationalbibliografie und VLB im gesamten Jahr 2012 80.000 Erstauflagen auf den Markt geworfen worden. Von hiesigen Verlagen wohlgemerkt. 2013 dürfte es nicht viel anders aussehen. Böse Zungen hätten früher behauptet: Da sieht man den Wald vor lauter Büchern nicht mehr. Doch selbst wenn heute hauptsächlich auf recyceltem Papier produziert wird, bleibt die Frage, wer hier überhaupt noch den Überblick behalten soll. Mit dieser Kolumne komme ich ja nicht mal mit den Titeln nach, die mir persönlich besonders vielversprechend erscheinen. Nachdem ich bei meinem Rundgang bereits nach drei Stunden mehrere Titel in den Händen gehalten habe, die ich eigentlich im Frühjahr hatte besprechen wollen, beschließe ich bei der traditionellen Krakauer kurzerhand, den Rückzug anzutreten und mich mit den Exemplaren zu vergnügen, die sich bereits neben meinem Schreibtisch stapeln.

Angefangen mit Garry Dishers „Dirty Old Town“ (pulp master): Asche auf mein Haupt! Wie konnte ich den alten Haudegen Wyatt so lange warten lassen? Auch wenn die Stunden mit dem eigenbrötlerischen Gangster nie ohne Blessuren abgehen, wirken die Treffen doch immer wie eine Frischzellenkur. Bei all seinen Macken sowie seiner politisch nicht ganz korrekten Berufung: Der Typ hat noch Prinzipien, und von seiner Ethik kann sich so mancher Moralapostel 'ne gehörige Scheibe abschneiden. Kein Wunder, dass der Sturkopf lieber alleine arbeitet. Doch auch für ihn werden die Zeiten härter – und so muss er sich diesmal nicht nur auf die Zusammenarbeit mit einem Kollegen, sondern auch noch mit seiner Ex-Frau einlassen. Da ist der Ärger schon vorprogrammiert.

Dem achtzehnjährigen Fred Bloch geht es nicht viel anders. Früh im Leben hat er seine eigene Weltsicht, seine persönlichen Ideale entwickelt, die ihm einen Höllenärger bescheren sollen: Als Sympathisant mit den Kommunisten während der Großen Depression trägt er seinen Kopf quasi die ganze Zeit in der Schlinge. Wie sein ambivalenter Mentor, der Entfesselungskünstler Gorden Corey, der von Alkohol und Selbstzweifeln zerrüttet seinen eigenen Tanz „Auf dem Drahtseil“ (Metrolit) zu überleben hat. Aneinander gekettet schlingert das Duo durch eine düstere Welt, aus der es kein Entrinnen gibt. Eine schaurig-schöne Graphic Novel aus der Feder des preisgekrönten Teams James Vance/Dan E. Burr, die den persönlichen wie den gesellschaftlichen Fallstricken dieser bitteren Epoche Gestalt verleiht.

Voll der mal quälend-schönen, mal marternd-psychotischen Erinnerungen blickt auch Marçal Aquinos Protagonist von seiner Pensionsveranda in einem rauen nordbrasilianischen Goldgräberstädtchen auf ein ganz persönliches Drama zurück, das zugleich ein landestypisches Sittengemälde zeichnet: die Amour fou des Fotojournalisten Cauby zu der manisch-depressiven, zwischen ungezügelter Leidenschaft und zartbesaiteter Verstocktheit pendelnden Lavínia, der bildhübschen Frau des Dorfpredigers. Viel früher hätte die Erkenntnis lauten müssen: „Flieh. Und nimm die Dame mit.“ (Unionsverlag); aber das sagt sich so leicht im Nachhinein. Gestrandet, gefangen, findet man sich plötzlich in einem Treibsand aus Abhängigkeiten wieder, wo eigentlich Leben und Freiheit blühen sollten.

Ein Zustand, den Rudolph Wurlitzer in seinem jüngsten Roman auf die Spitze treibt. Mit „Zebulon“ (Residenz) hat der Kultautor einen an der Grenze von Leben und Tod irrlichternden Mountain Man geschaffen, der, wohin er auch tritt, verbrannte Erde hinterlässt. Eine Kugel im Herzen, verflucht und zu einer scheinbar irrsinnigen Liebe verdammt, geistert der Antiheld auf einer wahren Odyssee durch den Wilden Westen, durch eine Welt, in der nichts selbstverständlich ist – bis auf den Tod, doch selbst auf den ist kein Verlass. Psychotisch, dreckig, spirituell. Wenn ich mich nicht langsam mal den Neuerscheinungen widmen müsste, würde ich es sofort nochmal lesen.

LARS ALBAT

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