Die kleine Meerjungfrau ist seit Walt Disneys berühmter Verfilmung von Hans Christian Andersens Märchen ein Popstar und wurde 2018 als Fantasy-Adventure neu verfilmt – ein Stoff also, der seit dem 19. Jahrhundert bis heute fasziniert und Antonín Dvořák als Vorlage seiner vorletzten Oper diente. Doch diese geht weit über eine naive Nacherzählung des Stoffes hinaus.
Der Librettist Jaroslav Kvapil gab der Oper „Rusalka“, die 1901 im Nationaltheater Prag uraufgeführt wurde, den Untertitel des lyrischen Märchens. Er betont damit, dass die Form seiner Dichtung vor allem musikalisch inspiriert ist und sich der Ästhetik des Symbolismus des Fin de siècle verpflichtet sieht. Die Märchenparabeln Oscar Wildes dienten ihm dabei als zusätzliche Anregung mit ihrem ästhetisch sublimierten Rückgriff auf Märchensammlungen der vorausgegangenen Romantik. Kvapil fügt Andersens Märchen sowohl Motive aus tschechischen Balladen und Volksmärchen als auch aus Friedrich de la Motte-Fouqués Erzählung „Undine“und Gerhart Hauptmanns Drama „Die versunkene Glocke“hinzu. Im Zentrum der Geschichte steht nun die unstillbare Sehnsucht Rusalkas nach einer Liebe, für die sie bereit ist, ihr bisheriges Leben aufzugeben und die letztendlich scheitert – ein Märchen ohne Happy End für Erwachsene.
Rusalka empfindet sich als unvollkommen, sie sehnt sich nach der Liebe des Prinzen, doch dazu fehlt ihr als Wasserwesen eine menschliche Seele. Für ihre Menschwerdung durch Hexenzauberei ist sie bereit, auf ihre Stimme (!) zu verzichten, also stumm zu sein, und auf die bedingungslose Treue des Geliebten zu vertrauen. Sollte der Prinz ihr untreu werden, kann sie nur in ihre alte Welt zurückkehren, wenn sie ihn tötet. So nimmt das Geschehen seinen tragischen Verlauf: Die Stumme bleibt eine Fremde in der dekadenten und falschen Hofgesellschaft, man begegnet ihr mit feindseligem Misstrauen. In der Hochzeitsnacht reagiert sie hilflos und ohnmächtig gegenüber den leidenschaftlichen Avancen des Prinzen, der sich daraufhin erotische Befriedigung mit einer anderen, der fremden Fürstin, verschafft. Rusalka, ihrer Stimme beraubt, kann ihren Schmerz nicht heraus lassen, sie erstickt fast daran. Die Harfe, das Instrument, das Dvorak ihrem Wesen von Beginn an klanglich zugeordnet hat, erklingt nun im zweiten Akt ganz allein, ohne Rusalkas Stimme. Auch wenn sie in der Naturwelt im ersten Akt noch eine Stimme hatte, war sie dennoch nie frei: der Wassermann dominierte seine Tochter als übermächtiger Vater – drohend, gewalttätig und scheinbar behütend zugleich. Nun reißt er sie mit sich fort vom Ort der Enttäuschung und Erniedrigung, aber zurückgekehrt in der Naturwelt ist sie mit einem Fluch beladen, von dem sie sich nur befreien kann, wenn sie den Prinzen tötet. Doch sie bleibt sich treu, will nur lieben, kann keine Rache verüben, auch wenn ihre Liebe nie in Erfüllung gehen kann. Diese Haltung verschärft noch die Tragik des Endes: Der Prinz bereut letztendlich sein Verhalten und sehnt sich nach Rusalka. Ohne sie will er nicht mehr leben, fleht um einen letzten Kuss, den Todeskuss, und stirbt. Rusalka überlebt. Die Musik endet im Kontrast zum dramatischen Schluss lyrisch-friedlich; leise klingt sie aus. Rusalka bleibt allein zurück in jener Welt, der sie entfliehen wollte.
Wo zu sehen in NRW?
10.3.(P) 18 Uhr, 13.3., 16.3., 22.3., 28.3., 30.3. je 19.30 Uhr, 24.3. 16 Uhr | Oper Köln im Staatenhaus | 0221 221 284 00
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