Was wäre, wenn ich eine Stadt wäre? Poetry Slams bieten – wie diese Frage – immer Überraschungen. Freunde dieses modernen Textkampfs wissen das. Denn keiner kann vor Beginn wissen, was an Text kommt – zuweilen selbst Autoren nicht, wenn sie gern spontan entscheiden. Doch so mancher Purist bleibt auf Distanz: Effekthascherei ist ein Vorwurf, Wettbewerbsdenke ein anderer. Jeder Slamabend, wie jetzt in der Börse, erlaubt aber zu lernen: Slam ist kein Genre. Der Wettstreit ist der Rahmen, doch füllen kann ihn alles.
Drei Autoren und zwei Autorinnen traten an der Wolkenburg vors Publikum, wie immer am zweiten Dienstag des Monats. Wilko Gerber war wieder einer der Moderatoren (man sagt: „Master“). Der andere war Ralph Michael Beyer. Dessen einstige Lehrerin – mittlerweile 93 Jahre alt – war heute mit im Saal.
Slammerin Marie Gehdannjez gab nicht nur ein Beispiel für einen einfallsreichen Namen, sondern auch für den eigentümlichen Vortragsstil, den heute viele Slammer betreiben: Hier war das klang- und auch sinnvoll. Zwar könnte, wer wollte, derlei Stil karikieren, doch würde dann zweierlei verkennen: Auch geschriebene Literatur kennt doch längst Eigensinn beim Zeilenbruch. Und: Hier ging es um einen Geliebten, genauer: Begehrten, und zwar einen zögerlichen. „Ich will ja auch nicht, dass du hier irgendwas erzwingst, aber was tun wir hier?“ Es zieht sich, er ziert sich – und so passt denn der Inhalt zur Form.
Marock Bierlej war dann nicht zuletzt Beispiel für einen Typ, einen prägnanten: Leicht wilder Look mit schwarzer Mähne, dem vor allem sein zweiter Text, „Wenn es brennen würde“, entsprach. Im ersten überraschte er mit verspielten Obst/Gemüse-Wortspielen à la Willy Astor: Der Held verteidigt gegen den bösen „Nazi Goreng“ eine Schöne, die er gerne „apri-kosen“ würde, und triumphiert am Ende: „Dich rett-ich!“ Freilich ging im Vortrag manches unter, und seinen Charme bezog der Auftritt weniger aus Sorgfalt als aus charmanter Lässigkeit. Ein Typ eben.
Cornelius von Daun war nach Absage eines Slammers eingesprungen und laut Moderation Neuling. Das Wort „Poetry“ vor „Slam“ ist generell eigentlich ein Ärgernis, weil es weder der Vielfalt von Slamtexten einen Gefallen tut noch der Poesie. Der junge Starter Nummer fünf war aber vielleicht der poetischste des Abends, wenn das Dinge meint wie: ernsthaft, reduziert, persönlich, bildlich. Ein Abschied fand dort starken Ausdruck, mit einem Effekt, der behutsam war, doch pointiert – und damit traf: „Die Sternenkante ist schmal / Die Kante bröckelt“ und weiter: „Einfach. Fort.“
Querdenken, Querbezüge sind so ein Ding, in dem viele Slammer gut sind und die dann Spaß machen. Heute etwa bei Jörg Degenkolb-Değerli: Sollte einmal eine Straße nach ihm benannt werden, wäre es laut Familienvotum eine „Einbahnstraße“ oder „Sackgasse“. Beim Räsonieren über die Beweggründe von Bühnenliteraten gab es nicht nur augenzwinkernd das Geständnis, es gehe um Verehrerinnen und Euphorie. Vielmehr trieb er das Thema Textliebe witzig auf die Spitze und wünschte sich konsequent einen „Textaufgabenslam“: Dieter Nuhr habe im Jahr acht Sendungen, Thorsten Sträter sei in dreizehn davon dabei. So etwa.
Kreative Analogien gab es auch bei Sonja van der Veen – aber hier sogar in Serie, weil sie den ganzen Text strukturierten und so um besagte Frage kreisten: Je nachdem also welche Stadt, welches Land man wäre, hätte das die oder jene Konsequenz – „von Fluten getroffen“ sein und vieles andere. Oder Myanmar: „Kontroversen, voll mit Kriegen / Aber am Ende würde immer das Gute siegen.“ Gelesen würden solche Sätze vielleicht nicht wirken – „performt“ und gereiht aber viel mehr. Vor allem wenn es dann abschließend heißt: „Meine Hauptstadt: Das Herz.“ und selbiges per Mikro vernehmlich in den Saal pocht. Solch einen Live-Effekt nun erleben Textfreunde nur beim Slam.
Wie auch manch spontanes Gekäbbel zwischen Ralph und Wilko, die jeder auch eigene Texte brachten und der Börse spaßig ihre Reverenz erwiesen – im Namen schließlich Ort des Geldes: „Wo steht eigentlich der Dax?“ „Links von dir.“ Denn ein putziger Mini-Dachs ist die Trophäe, die am Ende Marie nach Hause nehmen durfte. Verdient, und vielleicht auch weil bei ihr manches zusammen kam: Vor der Pause ein Vergleich zwischen Schule und Berufsleben, wie im Publikum hörbar auf Wiedererkennung traf. Und nun im Stechen gegen Mitfinalistin Sonja die siegreiche „Autobiografie des lyrischen Ichs“: Wenn man so will, etwas Autorenreflexion im Gewand einer Beziehungsgeschichte. Wie jeder Slam bot denn auch dieser Abend eine Parade literarischer Kurzauftritte – und die Chance, allzu philologische Bedenken mal vor der Tür zu lassen.
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