Es dürfte bekannt sein, dass Charles Gounod die Faust-Tragödie Goethes nicht als Vorlage für seine gleichnamige Oper verwendete. Vielmehr liegt dem Werk das französische Boulevardstück „Faust et Marguerite“ von Michel Florentin Carré zugrunde, das er und Jules Paul Barbier zu einem Libretto schufen. Sie legten den Fokus der Faust-Problematik darauf, dass sich der Protagonist nicht mit dem Alter abfinden kann, die Tragödie der Marguerite und Mephisto, der bestrebt ist, für Verwirrung zu sorgen. Sie verzichteten auf tiefsinnige philosophische Ausdeutung. Nach 1999 wird dieses Musiktheater, das seit der Uraufführung anno 1859 weltweit in unterschiedlichen Fassungen große Erfolge feierte, neu inszeniert im Wuppertaler Opernhaus wieder auf die Bühne gehoben. Als Vorlage dient die vieraktige kritische Neuausgabe des deutschen Musikwissenschaftlers Fritz Oeser aus dem Jahr 1972.
Dunkle Seelenstudie
Dem New Yorker Regisseur Matthew Ferraro geht es weniger um kurzweilige Unterhaltung, die auch der geläufigen Geschichte entnommen werden kann. Vielmehr schaut er ins Innere der Protagonisten, das er schonungslos offenlegt. Wenig soll von seinen Psychogrammen ablenken. Allein dafür spricht schon die sehr dunkel gehaltene, beklemmend wirkende Szenerie, die wahrlich kein Blickfang ist. Das von ihm geschaffene Bühnenbild ist ein schwarzes Gemäuer, das an Fassaden und Wände aus der Gründerzeit gemahnt. Der hintere Teil ist drehbar, der dadurch die Bühne in die teils weitläufigen Orte verwandelt, wo das Geschehen stattfindet. Auch die von Devi Saha entworfenen Kostüme sind bis auf ganz wenige Ausnahmen schwarz beziehungsweise in dunkle Grautöne gehalten. Düster geht es also zu. Das soll wohl dazu führen, einzig den Blick auf die Personen zu richten. Doch gerade dann, wenn sie sich nur langsam oder gar nicht bewegen, gibt es hin und wieder Längen. Die können ermüdend wirken, da sich bekanntlich die menschlichen Sehnerven nicht langweilen wollen. Ausnahmen sind die Projektionen der Marguerite im ersten Akt oder gegen Ende als Stummfilm der Rückblick die Verführung des Faust. Auch ein über allem schwebender knallroter Teufel und die Massenszenen unter anderem mit den Soldaten, die sich richtig einen hinter die Binde kippen, machen etwas her, wie die Verjüngungskur Fausts mittels einer Zeitmaschine.
Dem Zauberbann entrissen
Von Anfang an begibt man sich auf eine unheildrohende Zeitreise, in deren Verlauf sich Abgründe auftun. Es geht um existenzielle Fragen in dieser bitteren Welt, wobei die menschliche Seele alle Gefühle von himmelhoch jauchzend bis abgrundtief betrübt durchlebt. Die ganze Tragik des Liebesdramas zwischen Marguerite und Faust, ihre Selbsttäuschungen werden schonungslos offengelegt, wozu der allgegenwärtige Teufel mit all seinen Tricks gehörigen Anteil hat. Schließlich ist es Marguerite, die diesem Psychodrama ein Ende setzt, Mephisto jeden Zauberbann entreißt, daran aber zugrunde geht. Dieser Vorgang wird bis auf die erwähnten Längen schlüssig und packend vermittelt.
Der „Faust“ ist ein Werk, dass das hauseigene Ensemble ohne Aushilfen stemmen kann. So gibt es nur einen kurzfristigen Ausfall: Für den erkrankten Erik Rousi springt Almas Svilpa vom Aalto-Theater in Essen ein, der darstellerisch und mit seinem profunden Bass-Bariton glaubhaft einen diabolischen Mephisto abgibt. In die Rolle des Faust schlüpft Sangmin Jeon mit seinem kräftigen, variablen Tenor, der nur beim Registerübergang in die Höhe Schwächen aufzeigt. Sopranistin Margaux de Valensart singt trotz angekündigter, aber nicht hörbarer kleiner Unpässlichkeiten die Partie der Marguerite außerordentlich ausgewogen mit unverkrampften Koloraturen. Auch Zachary Wilson (Valentin), Hak-Young Lee (Wagner), Edith Grossmann (Siebel) und Vera Egorova (Marthe) überzeugen mit ihren sattelfesten Stimmen. Dieser hohen Güte werden ferner Opern- und Extrachor (Einstudierung: Ulrich Zippelius) gerecht.
Bravo, bravo!
Aus dem Graben kommen kultivierte Klänge. Der scheidende 1. Kapellmeister Johannes Witt lotst das Sinfonieorchester Wuppertal umsichtig durch die Partitur. So kommt der große musikalische Einfallreichtum Gounods mit seinen Kontrasten und der Klangfarbenvielfalt elegant und differenziert zu Geltung. Auch die dynamischen Verhältnisse zwischen Bühne und Orchester stimmen bis auf wenige Ausnahmen. Kleine Unstimmigkeiten im ersten Akt zwischen Chor und Orchester sind bestimmt bei den kommenden Aufführungen nicht mehr wahrnehmbar.
Das Premierenpublikum im fast voll besetzten Auditorium zeigt sich begeistert, spendet stehende Ovationen für alle an der Produktion beteiligten Personen. Eine Handvoll Gäste in den letzten Reihen des Parketts schreien sich sogar mit ihren nicht enden wollenden Bravo-Rufen derart die Lunge aus dem Leib, als wollen sie das Verhalten von Claqueuren überbieten.
Faust | 2., 23.3., 5.4., 9.5., 8.6. | Oper Wuppertal | Info: 0202 563 76 66
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