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Hans Werner Henze (1960)
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F008277-0008 / Unterberg, Rolf / CC-BY-SA 3.0

Überlebenskampf auf dem Meer

20. August 2018

Hans Werner Henzes politisches Oratorium „Das Floß der Medusa“ – Opernzeit 09/18

Die historischen Ereignisse haben viel gemein mit der humanitären Katastrophe der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer in unseren Tagen. Im Jahre 1816 entsendet der französische König eine militärische Expedition, um den Senegal von den Engländern zurückzuerobern. Mit an Bord sind Angehörige der Mannschaft und geladene Ehrengäste. Der unerfahrene Kapitän des Flaggschiffes Medusa läuft kurz vor der Küste Afrikas auf eine Sandbank auf, alle Versuche, das Schiff wieder flott zu machen, scheitern. Die Offiziere und hochstehenden Gäste steigen in die wenigen Rettungsboote, für die anderen muss ein aus den Planken des untergehenden Schiff gezimmertes Floß reichen, das von den Rettungsboten gezogen wird, doch bald werden die Leinen gekappt und die hundertfünfzig Menschen auf dem Floß ihrem Schicksal überlassen. Hitze, Hunger und der Durst haben einen unerbittlichen Überlebenskampf zur Folge, es kommt zu Kannibalismus. Nach zwei Wochen werden die wenigen noch Lebenden von einem Schiff aufgenommen, von denen am Ende nur zehn überleben. Die Ereignisse schlagen im damaligen Frankreich Wellen und viele sehen darin ein Zeichen für die endgültig gescheiterten Ideale der Revolution von 1789 und die Restauration im Kaiserreich.

Henze und sein Librettist Ernst Schnabel sehen ihre eigene Zeit in den Ereignissen gespiegelt und verstehen ihr Werk „als Beschreibung eines Kampfes ums nackte Leben, aus dem später einmal kämpferischer Geist und die Entschlossenheit zur Änderung unerträglicher Verhältnisse hervorgehen sollten“ (Henze). Sie widmen das Oratorium Che Guevara, dem ermordeten Revolutionsführer der Befreiungsbewegung in Bolivien. In der Folge wird Henze vom konservativen deutschen Kulturbetrieb für mehrere Jahre zur persona non grata erklärt. Aber auch bei der extremen Linken stößt er auf Ablehnung, die ihn als „Salonsozialisten“ abtut und seine Musik als „konterrevolutionär“ brandmarkt. Die Uraufführung gerät zur Saalschlacht und wird abgebrochen, die Musiker weigern sich unter der vom Komponisten gehissten roten Flagge zu spielen – ein Debakel.

Der Untertitel „Oratorie volgare e militare“ wendet sich an die unterdrückten Völker und ruft zum Widerstand auf. Ein Sprecher und ein Sänger (Bariton) verlesen das Logbuch: Charon, der als Fährmann die Toten über den Styx in die Unterwelt bringt, und ein als Seemann angeheuerter Mulatte (Bariton), der ums Überleben kämpft. Die Sopranistin als allgegenwärtiger Tod ruft die Menschen auf dem Floß mit sirenenhaftem Gesang zu sich. Der Übergang vom Leben zum Tod spiegelt die räumliche Anordnung des Chores und des Orchesters auf der Bühne wider: Die Lebenden singen Deutsch, ihnen sind die atmenden Blasinstrumente zugeordnet, während die Toten beim Betreten ihres neuen Reichs in klassisches Italienisch aus Dantes Inferno wechseln, nur von Streichinstrumenten begleitet. Die Sterbenden sind Menschen der Dritten Welt, Opfer der Herzlosigkeit von Egoisten aus der Welt der Reichen und Mächtigen, schreibt Henze im Vorwort zu seiner Partitur – eine Anklage, die heute wie damals gilt.

Wo zu sehen in NRW? 
Ruhrtriennale: 31.8.(P), 1.9., 2.9. 21 Uhr | Jahrhunderthalle Bochum | 0221 28 02 10

Kerstin Maria Pöhler

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