Der dicke Eispanzer auf dem Gemäuer ist nicht nur dem strengen Winter geschuldet, der das herrschaftliche Anwesen irgendwo im Norden umtost. Bittere Kälte herrscht auch im Salon der Baronin. Mit ihrer Tochter Vanessa spricht sie kein Wort mehr; und Vanessa selber ist, von ihrer großen Liebe verlassen, seit 20 Jahren in eine innere Starre verfallen. Dazwischen steht die junge Erika, unschuldig und ergeben. Dann platzt ein Mann in die abgeschottete Welt – ein Gespenst aus längst vergangener Zeit.
Als Samuel Barber 1958 seine erste Oper an der New Yorker „Met“ aufführen ließ, da jubelte das Publikum und prompt folgte der Pulitzer-Preis für Musik. Drei Jahre später dann die Ernüchterung: Bei den Salzburger Festspielen blieb die Reaktion eher kühl, die Kritik fiel regelrecht über den Komponisten her. In einer Hochphase der europäischen Avantgarde präsentierte der Amerikaner eine große Oper nach romantischem Vorbild mit Anklängen an Puccini und Richard Strauss: „Plüsch“ und „Kitsch“ lauteten die Urteile. Barbers „Vanessa“ war in der Alten Welt damit für lange Zeit abgehakt.
Das Theater Hagen hat Vanessa nun wieder auf die Bühne gebracht. Sie fügt sich ein in eine lose Folge amerikanischer Opern, die einen roten Faden der Intendanz von Norbert Hilchenbach seit 2007 bilden. Regisseur Roman Hovenbitzer hat den Dreiakter in der gestrafften Fassung von 1964 mit ausgiebigem Einsatz von Videoeinspielungen (Film: Volker Köster) inszeniert. Herausgekommen ist ein atmosphärisch äußerst dicht gewobenes Psychodrama, das zu fesseln vermag und auch geschickt mit den Gegebenheiten operiert. Etwa, dass sich die australische Gastsopranistin Katrina Sheppeard in der Titelrolle und Kristine Funkhauser als Erika im Timbre recht ähnlich sind. Die Regie macht aus der eigentlichen Nichte Erika eine Tochter und lässt sie der Mutter auch äußerlich gleichen. Das ist auch dramaturgisch geschickt, wenngleich man sich musikalisch vielleicht etwas mehr dramatisches Gewicht in der Vanessa-Partie wünschen würde.
An Dramatik mangelt es der Partitur Barbers nicht – sie ist mitunter etwas überladen damit. Die Hagener Philharmoniker kosten sie unter Leitung von Florian Ludwig jedenfalls sehr genussvoll und farbenreich aus. Die Musik ist oft eingängig, teils klingt sie nach Hollywood. Neben den beiden Solistinnen singen auch die männlichen Gäste – der amerikanische Tenor Richard Furman als jugendlicher Liebhaber Anatol und Bariton Ilkka Vihavainen als lüstern-aufdringlicher Doktor – ihre Partien mit beachtlicher Präsenz und Ausstrahlung. Durchweg erfreulich sind ebenso die schauspielerischen Leistungen bis in die kleineren Rollen. Hovenbitzers ist Inszenierung auch ein Glanzstück für den geschickten Einsatz von Videoeinspielern. In der Art glamouröser Stummfilme erscheinen Vanessas Erinnerungen an die glückliche Vergangenheit wie verklärte Träume. Realität und Traum verschwimmen in ästhetisch bestechender Weise. Absolut sehenswert!
„Vanessa“ | R: Roman Hovenbitzer | 13.5., 22.5., 28.5. je 19.30 Uhr, 17.5. 18 Uhr | Theater Hagen | 02331 207 32 18
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