Man hat es nicht leicht mit ’nem Ratsch am Kappes; oder wie man auf gut Deutsch sagt: mit ’ner dezenten Meise. Zu Karneval mag das nicht auffallen. Doch spätestens, wenn man raus muss aus seinem Kostüm, steht man wieder nackt da und sucht eine alltagstaugliche Tarnung. Solange die Fassade hält, kommt man auch mit den übelsten Psycho-Defekten durch – als Literaturdozent zum Beispiel: Leicht verbittert musste Marc irgendwann einsehen, dass aus seinem Schriftstellertraum nichts wird. Aber auch eine Dozentenlaufbahn kann mit netten Plaisirchen aufwarten. Man muss sich nur an die Regeln halten: Schäferstündchen mit den Studentinnen gehören nicht an die Öffentlichkeit. Erst recht nicht, wenn sie einem einfach unter den Fingern wegsterben. Als Marc sich jedoch zum ersten Mal in eine gleichaltrige Frau verguckt, zieht sich die Schlinge um seinen Hals zu – Barbara ist die Mutter seiner „Verflossenen“. Aber auch die Beziehung zu seiner Schwester, mit der er seit seiner Horrorkindheit allein auf dem alten Familienanwesen lebt, läuft langsam aus dem Ruder. Verstörend abstoßend verklärt Philippe Djians Protagonist in „Die Rastlosen“ (Diogenes) die Realität, während seine Psychose geschwulstartige Auswüchse treibt.
Wäre er doch lieber Schriftsteller geworden. So wie James Ellroy, der in seinen Krimis zeitlebens den unaufgeklärten Sexualmord an seiner alleinerziehenden Mutter Jean Hilliker zu verarbeiten scheint; mal ganz konkret („Die schwarze Dahlie“), mal reduziert auf das bitterböse Zeitkolorit seiner kaputten Kindheit („L.A. Confidential“). Nicht umsonst heißen seine Memoiren „Der Hilliker-Fluch“ (Ullstein). Mit unbändiger Wut und Leidenschaft dröselt er sein von Kriminalität, Drogen, deliranten Affären und zwanghaften Ehen, vor allem aber von einer pathologischen Besessenheit geprägtes Leben auf. Eine erbarmungslose Tour de Force, bei der es kein Entrinnen gibt.
Ganz anders der Schriftsteller in Rick De Marinis’ „Götterdämmerung in El Paso“ (pulp master): Luther Penrose versteckt sich lieber hinter den verquasten Metaphern seiner High-End-Literatur und schickt stattdessen seinen Kumpel J.P. Morgan auf die Jagd nach seiner Frau, die mit einem mexikanischen Uni-Kollegen durchgebrannt ist. Doch hinter der Flucht von Carla Penrose steckt mehr als nur ein liebestolles Abenteuer: Ihr Lover Hector Martinez wird nicht nur von der Polizei, sondern auch von einer Nazi-Brigade gesucht, weil er den Sohn des Anführers bei einer humanistischen Schleuser-Aktion erschossen hat. Klingt wüst. Ist es auch. Denn J.P. hat nebenher auch noch ein Irak-Trauma zu verarbeiten, was diesen Pulp-Krimi zu einer garstigen Hard-Boiled-Groteske macht, die unbarmherzig Salz in die Wunden der USA streut.
Doch zurück von der Nation zu den Möglichkeiten des kleinen Mannes, seine heimlichen Macken mit den gesellschaftlichen Konventionen zu arrangieren. Ein merkwürdiger Tanz, der sich auch in dem Bildband zu Robert Longos „Men in the Cities“ (Schirmer/Mosel) widerspiegelt. Eigentlich waren die mehr als 30 Jahre alten Fotografien nur als Vorlage für seine Zeichnungen gedacht, und doch steckt in ihnen eine ganz eigenständige, fesselnde Intensität. Auf dem Dach seines Lofts winden sich Künstlerfreunde und Kollegen in wilden Posen, mal unsichtbaren Geschossen ausweichend, mal schwer getroffen. Unweigerlich wird man auf sich selbst zurückgeworfen, wie man mit seinen Sehnsüchten, seiner Leidenschaft durchs Leben taumelt, sich verrenkt, um seine kleinen Macken auszuleben und doch immer wieder voll erwischt wird. Nicht zuletzt, wenn man am höchsten fliegt.
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