ZUR PERSON
Dr. Florian Muhle (35) lehrt und forscht im Bereich Mediensoziologie an der Uni Bielefeld.engels: Herr Muhle, ist es problematisch, wenn sich jemand häufig und lange vor dem Computer oder anderen Medien aufhält?
Florian Muhle: Darauf kann man gar keine eindeutige Antwort geben. Wenn ich dazu Ja sagen würde, wäre auch mein eigener Medienkonsum problematisch. Ein Großteil der Menschen hält sich alleine schon im Arbeitskontext den ganzen Tag vor dem Computer auf. Es kommt also gar nicht auf die Dauer an, sondern vor allem auf die Art der Nutzung. Der Computer oder das Internet sind Universalmedien, die ganz unterschiedlichen Zwecken dienen können: zu arbeiten, zu schreiben, zu lernen, zu konsumieren, zu kaufen, zu spielen – wenn man von problematischer Nutzung spricht, hat man oft Spiele vor Augen oder virtuelle Welten. Das macht insgesamt aber nur einen kleinen Anteil aus.
Welche Art der Nutzung wäre denn für Sie ein Problem?
Natürlich gibt es so etwas wie Realitätsflucht. Man hat da immer ein Bild vor Augen von einem pubertierenden Teenager, der sich in seinem Zimmer verbarrikadiert, nicht mehr mit den Eltern spricht und den ganzen Tag nur noch Ego-Shooter spielt. Es gibt Menschen, die sich in virtuellen Welten neue Realitäten aufbauen. Das sind meines Erachtens – und auch die Zahlen sprechen dafür – kleine Phänomene, die ganz bestimmte Leute betreffen. Da ist auch nicht der Computer das Problem. Die Probleme dieser Menschen liegen außerhalb des Internets. Wenn es das Internet nicht gäbe, würden Sie andere Mittel finden, um aus der Realität zu fliehen.
Sie haben Zahlen angesprochen. Hat sich das Verhalten der Internet- und Smartphonenutzer verändert? Kann man das überhaupt messen?
ZUR PERSON
Dr. Florian Muhle (35) lehrt und forscht im Bereich Mediensoziologie an der Uni Bielefeld.
Es gibt zum Beispiel die ARD- und ZDF-Onlinestudie. Dort kann man feststellen, dass insgesamt die Internetnutzung sehr deutlich steigt. Auch ältere Menschen nutzen das Internet häufiger, und die Dauer steigt ebenfalls. Das Internet wird zunehmend das wichtigste Medium. Der klassische Computer spielt dabei immer weniger eine Rolle, das Smartphone immer mehr. Wenn man sich aber die Anwendungen anschaut, die am meisten genutzt werden, haben die meisten den Zweck mit ganz realen Menschen zu kommunizieren. Daneben spielt auch die klassische Medienrezeption eine wichtige Rolle – also das, was man früher über Radio oder Fernsehen gemacht hat. Selbst junge Menschen von 14 bis 29 Jahren geben an, dass Spielen im Internet nur einen Anteil von 13 Prozent an ihrer gesamten Mediennutzung hat.
Die Veränderung sieht man auch im Stadtbild. Viele sind mit dem Handy unterwegs. Stört sie das persönlich?
Manchmal stört mich die Allgegenwart des Smartphones. Das Internet wird immer mobiler. Klar stört es auch mich, wenn ich mit Freunden zusammensitze und das Handy klingelt. Da gibt es manchmal dann auch Konflikte, bis geklärt ist, dass das Handy ausbleibt oder wann die Nutzung okay ist. Oder in der Schule.
Oder an der Uni. Erleben Sie das?
Das erlebe ich natürlich auch. Man merkt dann aber auch, dass es den Leuten unangenehm ist, denen es passiert. Und es wird auch allgemein als Störung wahrgenommen. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass ein Großteil der Studierenden auch während des Seminars unterm Tisch ab und zu aufs Handy schaut. Das kann ich aber gar nicht beeinflussen. Ich gehe entspannt damit um: In der Schule habe ich in den 90er Jahren auch Zettel geschrieben, die hin und her wanderten. Das Smartphone ist einfach ein neues Instrument für Dinge, die auch früher schon stattgefunden haben.
Das war die Sicht des Soziologen.
Genau. Wenn das Handy immer im Alltag mit dabei ist, erfordert es einfach neue Konventionen, wie man damit umgeht. Auch Jugendliche finden es beispielsweise störend, wenn jemand anders gerade chattet, obwohl man sich gerade trifft. Das bedeutet für mich, dass Wege gefunden werden müssen, die neue Technologie in den Alltag einzubauen und es ist zu beobachten, dass formelle oder informelle Regeln aufgestellt werden. Zum Beispiel mit Flüsterzeichen im Zug, die bedeuten, dass man dort nicht oder nur leise telefonieren darf, weil Leute sich gestört gefühlt haben. Umgekehrt gibt es Abteile mit besonders gutem Empfang. Es strukturiert sich. Ich sehe das entspannt. Es wird sich schon finden.
Stimmen Sie der These zu, dass Soziale Netzwerke unser Leben stark verändert haben?
Jein. Auch hier sollte man etwas genauer hinschauen. Ja, weil beispielsweise Facebook es geschafft hat, sehr viele Dienste zu bündeln. Wenn ich Mails schreibe, mir die Tagesschau anschaue und SMS verschicke, integriert Facebook alle diese Dienste. Private und professionelle Nachrichten vermischen sich sogar, was auch zu Problemen führen kann, wie man an der aktuellen Debatte um ‚Fake News‘ sieht. Auch soziale Beziehungen ändern sich durch Soziale Netzwerke insofern, dass das, was ich im Alltag tue, viel sichtbarer wird. Was lange privat gepflegt wurde, passiert nun in einer persönlichen Öffentlichkeit. Damit geht eine stärkere Tendenz der Selbstdarstellung einher und der Druck, Sichtbarkeit erzeugen zu müssen. Wenn ich bei Facebook nichts poste, gehe ich unter. Früher mussten das nur Prominente machen.
Jetzt kommen wir vermutlich zum Nein.
Genau. Zugleich ist ein Großteil dessen, was die Leute über Soziale Netzwerke machen, einfach Freundschaftskommunikation. Wir haben hier wieder nur ein verändertes Medium in dem eigentlich nichts grundlegend Neues passiert. Es werden aber neue Wege gefunden. Im Kern geht es um Beziehungspflege. Soziale Netzwerke sind auch nicht aus dem Nichts aufgetaucht und haben auf einmal alles verändert. Die Kontakte, die wir haben, sind nicht mehr nur rein lokal. Die Gesellschaft ist immer mehr von Mobilität geprägt. Soziale Netzwerke sind deshalb so erfolgreich, weil sie Kontakte herstellen und aufrecht erhalten können – selbst oberflächliche Kontakte – auch wenn man an verstreuten Orten lebt. Wenn man sich zum Beispiel früher beim Bäcker getroffen und ein kurzes Pläuschchen gehalten hat, blieb man genauso auf dem Laufenden, wie jetzt über Facebook.
Hat der Druck, auf Nachrichten sofort antworten zu müssen, zugenommen?
Ja, sicher. Auf der einen Seite muss ich aktiv sein und posten. Auf der anderen Seite entsteht dadurch die Erwartung, dass andere etwas zur Kenntnis nehmen, denn das gehört zu sozialen Beziehungen dazu. Dadurch entsteht ein gewisser Druck. Das betrifft auch die Anzeige in Messenger-Diensten, die zeigen, dass eine Nachricht gelesen oder wann sie gelesen wurde. Man fühlt sich schnell verpflichtet, zu antworten, und wartet umgekehrt auf eine Antwort. Das führt dazu, dass man ständig auf sein Handy guckt. Aus Befragungen mit Jugendlichen weiß man, dass das die Leute selbst nervt und anstrengt.Wenn man das mit dem alten Schnurtelefon mit Wählscheibe vergleicht – da konnte ich mich immer rausreden, wenn ich keine Lust hatte, ranzugehen (lacht). Die nächste Entwicklung war das Telefon mit Display, durch das die Erwartung entstanden ist, zurückzurufen. Aber selbst da konnte man sagen, „ich habe das gar nicht gesehen“.
Wie sieht es denn bei Ihnen persönlich aus? Wann sind Sie zuletzt in ein Medium geflohen?
Wenn ich gestresst bin, schaue ich gerne abends gelegentlich mal eine Episode von einer Serie. Oder zwei oder drei. Man flüchtet indem man abschaltet und sich berieseln lässt. Das ist eine Strategie, um abends mal den Kopf freizukriegen – das muss auch nicht nur negativ sein. Und die Realität klopft auch immer schnell wieder an.
Und gab es bei Ihnen Konflikte um die Mediennutzung?
Immer mal wieder am Abendbrottisch. Aber dann in der Hinsicht: Handy aus und hier sein.
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Aktiv im Thema
www.caritas.erzbistum-koeln.de/wuppertal-solingen | Die Suchtberatung des Caritasverbands Wuppertal/Solingen informiert und berät Betroffene und deren Angehörige zu Suchtkrankheiten
www.bundesgesundheitsministerium.de | Hinweise des Bundesgesundheitsministeriums für Gesundheit zum Thema Sucht
www.sucht.de | Der Fachverband Sucht e.V. ist ein bundesweit tätiger Verband von Einrichtungen, die sich der Behandlung, Versorgung und Beratung von Suchtkranken widmen
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