Brauchen wir sie wieder, die männliche Identifikationsfigur? In der Politik, in der Familie oder an den Schulen? Heute, wo die antiautoritäre 68er-Revolte in den Medien ihr Jubiläum feiert, wird oft darüber diskutiert: Orientierungsverlust, ja sogar Verunsicherung als Folge der Liberalisierung. Für viele KritikerInnen drückt sich das in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen aus, wo das Lehrpersonal mittlerweile größtenteils weiblich ist, während es die Männer in andere Berufsfelder drängt. Die Klage: Durch den Männermangel in den Kitas und Klassenräumen könne die Erziehung nur noch schwer den Ansprüchen der Jungen gerecht werden. Denn gerade sie wurden in den letzten Jahren regelmäßig als Bildungsverlierer bezeichnet. Ein Diskurs, nicht erst seit der Pisa-Studie von 2006. Damals beklagten PädagogInnen eine mangelnde Lesekompetenz männlicher Schüler.
Viele Zahlen untermauern diesen Diskurs über Jungen als Bildungsverlierer: So wird bei ihnen vier mal häufiger als bei Mädchen eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. Im Schuljahr 2014/15 waren fast zwei Drittel der SonderschülerInnen männlich. Im Schnitt erhalten Jungen die schlechteren Noten und nach der Grundschule weniger Gymnasialempfehlungen. Auch die Quote der SchülerInnen, die den Jahrgang wiederholen müssen, ist bei ihnen höher. Umgekehrt ist das Verhältnis bei den vorzeitig Eingeschulten: Während statistisch elf von hundert Mädchen früher die erste Klassen besuchen dürfen, sind es bei den Jungen nur sieben von hundert. Studien wie der erste nationale Bildungsbericht kamen daher 2006 zum Schluss: Beide Geschlechter weisen zwar die gleiche Intelligenz auf, der Lernerfolg fällt allerdings deutlich unterschiedlich aus.
Schuld daran sei jedoch nicht ein Mangel an männlichen Lehrern. Zu diesem Ergebnis kam 2015 eine Studie unter der Leitung von Bildungsforscher Marcel Helbig vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB): Weder profitieren Mädchen von Lehrerinnen, noch Jungen von Lehrern, das fand das Forscher-Team bei ihrer Auswertung von 42 Studien mit Daten von insgesamt 2,4 Millionen SchülerInnen aus 41 Ländern heraus. Es lassen sich, wie oft vermutet, auch keine Belege dafür finden, dass sich die Schulleistungen von Jungen in den letzten Jahren verschlechtert hätten. Mädchen hätten vielmehr schon immer bessere Schulnoten erhalten, was auf die unterschiedliche Leistungsbereitschaft zurückzuführen sei. Während Mädchen fleißig und diszipliniert sind, gelten diese Tugenden unter Jungen eher als uncool. Ist der vermeintliche Männermangel an Schulen also eher ein Ausdruck von gesellschaftlich vermittelten Geschlechterrollen?
Trotz der Studien und Statistiken wurden in den letzten Jahren Stimmen laut, die eine geschlechtsspezifische Pädagogik forderten. Für Diskussionen sorgte etwa die Grundschulrektorin Birgit Gegier Steiner mit ihrem Buch „Artgerechte Haltung. Es ist Zeit für eine jungengerechte Erziehung“. Um der beklagten Benachteiligung von Jungen im Bildungssystem entgegenzuwirken, fordert die Schulleiterin aus der Gemeinde Rielasingen-Worblingen eine Erziehung, die den „biologischen Bauplan“ der Jungen berücksichtige. Jungen sind laut Steiner risikobereit, bewegungsfreudig und wettkampforientiert, weswegen sie ein „fußball-didaktisches Prinzip“ fordert: Ein Rahmen, der für Jungen Bewegungsfreiheit beinhalten soll genauso wie feste Grenzen und Regeln.
In den letzten Jahren entstand eine regelrechte Lobby aus PädagogInnen, PsychologInnen und Coaches, die eine spezifisch-männliche Erziehung anbietet. So tourt das „Kraftprotzinstitut“ durch Deutschland. Seine Agenda: die Förderung einer geschlechtsbewussten Wahrnehmung von Jungen und männlichen Jugendlichen. In Kampfesspielen versuchen Trainer den Schülern zu vermitteln, mit ihren Aggressionen umzugehen. Ihre Mitschülerinnen nehmen an den Übungen nicht teil.
Brauchen wir also mehr männliches Lehrpersonal, um zu den „natürlichen Gegebenheiten“ zurückzukehren, die, wie Steiner beklagt, zu lange ignoriert wurden, weil eine liberale Gender-Gerechtigkeit als Maß der Dinge gelte? Was KritikerInnen wie Steiner übersehen: Aggressivität oder Wettbewerbsorientiertierung ist den Jungen nicht angeboren, sondern gesellschaftlich vermittelt. Vielleicht besteht genau deswegen ein Männermangelproblem: Mehr Lehrer könnten diesen geschlechtlichen Rollenbildern entgegenwirken. Und das Liberalisierungsprojekt von 68 fortsetzen.
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