Schüchtern geht ein Herr mittleren Alters zwischen den Kleiderstangen in der Damenabteilung eines Kaufhauses auf und ab. Immer wieder schaut er sich um. Wenn er sich unbeobachtet wähnt, nimmt er ein Kleid heraus und hält es sich einen kurzen Augenblick lang an. Nach mehreren Versuchen hat er das passende Teil gefunden und geht damit zügig zur Kasse. Natürlich, so erzählt die Verkäuferin später, gibt es viele Männer, die Frauenkleider kaufen. Einige werden diese Kleider ihren Partnerinnen schenken. Bei anderen, zum Beispiel auch bei jenem Kunden, sei sie sich aber sicher, dass dieser für den Eigenbedarf kaufte. „Es sind mehr Männer, als man denkt.“
Vieles ist inzwischen möglich. Ranghohe Politiker bekennen sich zu ihrer Homosexualität. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind in vielen Bereichen denen gemischtgeschlechtlicher juristisch gleichgestellt. Eine Dragqueen gewinnt den größten europäischen Schlagerwettbewerb. Aber hat sich im Alltag von Menschen, die der gängigen gesellschaftlichen Norm geschlechtlichen Zusammenlebens nicht entsprechen, wirklich viel geändert? Der Schwule als anzugtragender Karrieremann ist in weiten Schichten akzeptiert. Aber die moralischen Grenzen haben sich nur verschoben, verschwunden sind sie nicht. Auf der Bühne mag ein Mann in Frauenkleidern ja vielerorts funktionieren. Aber als Kollege im Büro oder an der Drehbank? Und Transvestiten und Transsexuelle bilden ja nur jeweils kleine Gruppen unterm Regenbogen. Transsexuelle grenzen sich sogar oft ab. Sie seien nicht homosexuell sondern nur im falschen Körper geboren. Für die Schlagzeilen der Boulevardblätter taugen nach wie vor reißerische Geschichten über Pädophile, Sadisten, Masochisten, Fetischisten und Sodomisten, um Stimmung gegen alles angeblich Widernatürliche zu befeuern. Dabei wird oft unterschlagen, dass es sich bei manchen Sexualpraktiken wie zum Beispiel bei der Pädophilie um Straftaten handelt, bei anderen aber keinesfalls. Das Fremde bleibt in der Zeitung mit den großen Buchstaben das Feindliche, das man aber trotzdem oder gerade deshalb gern zeigt.
Besonders deutlich offenbart sich die Funktion, die der Hass auf alles vermeintlich Anormale hat, in totalitären Staaten. Nach dem Eurovision Song Contest hörte man besonders aus der Türkei und aus Russland den Aufschrei der Saubermänner gegen den dekadenten Westen. Nicht die knüppelnden Polizisten auf dem Taksim-Platz oder die Einheiten des russischen Innenministeriums, die gegen jegliche Opposition gegen Putin brutal vorgingen, sind die Feinde der Bürgerinnen und Bürger. Der Feind ist ein Schlagersänger mit Kleid und Bart. Aber auch in Deutschland gab es böse Stimmen gegen den diesjährigen ESC-Preisträger. Der angeblich geläuterte Elternschreck Sido war Teil der vom öffentlich-rechtlichen NDR bestellten Jury, die mit ihrem negativen Votum verhinderte, dass noch mehr als die vergebenen sieben Punkte aus Deutschland nach Österreich gingen. Im Gästebuch auf seiner Facebook-Seite, die ansonsten sorgfältig gepflegt und von Äußerungen gegen Sido gereinigt wird, fanden sich tagelang Mordaufrufe gegen Conchita Wurst. Schaut man sich in der hiesigen Jugendkultur um, so findet man tatsächlich zwei sich widersprechende Tendenzen. In der Glitzerwelt der Popmusik und des Schlagers weichen schon seit den 1970er Jahren die Grenzen auf. David Bowie sah aus wie eine zu sehr geschminkte Schaufensterpuppe und Nena wie David Bowie mit dunklem Haar.
Die eher testosterongetränkten Kulturschaffenden aber, früher Hardrocker und Reggae-Musiker, heute eher Gangster-Rapper und Vulgär-Hip-Hopper, pöbeln und hetzen gegen Schwule. Dabei bilden sie völlig unerwartete Koalitionen. Nicht ganz so offen, aber inhaltlich doch verwandt polemisieren bürgerliche Politiker gegen Schwule und Lesben. Spitze des rosafeindlichen Eisbergs ist unter anderem der Bürgermeister von Herschbach im Westerwald Sven Heibel, der sich jüngst öffentlich den Paragraphen 175 zurückwünschte. Jener Passus aus dem Strafgesetzbuch ahndete homosexuelle Handlungen mit bis zu fünf Jahren Gefängnis. Dieses für viele Schwule in der Nachkriegszeit verhängnisvolle Gesetz wurde 1969 und 1973 abgemildert und erst 1994 gänzlich gestrichen. Aber nicht nur der schöne Westerwald zeigt sich hinterwäldlerisch. In Baden-Württemberg unterschrieben über 60.000 besorgte Menschen bereits Anfang des Jahres eine Petition, die verlangte, dass Homosexualität nicht im Schulunterricht behandelt werden solle. So kann man tatsächlich von einer sehr bunten Front gegen die Regenbogenfahne sprechen. Ob Sido, Putin oder Heibel, sie alle eint der Wunsch, in einer rein heterosexuellen Welt leben zu wollen. Letztlich begreifen sie alle drei die Infragestellung der gängigen Geschlechterrollen als Angriff auf ihre Männlichkeit. Vielleicht aber würden diesen drei Herren Kleider, Lippenstift und High Heels besonders gut stehen? Und vielleicht würden sie einen Besuch in der Damenabteilung eines Kaufhauses sogar genießen? Der Homophobe hat wahrscheinlich mehr Angst vor sich selbst als er glaubt.
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