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Strafvollzug ist nicht mehr zeitgemäß
Foto: Benni Klemann

„Der Jugendstrafvollzug sollte abgeschafft werden“

30. Juni 2016

Werner Nickolai über Alternativen zu Gefängnisstrafen – Thema 07/16 Freiheit

engels: Herr Nickolai, eine Ihrer Thesen lautet, dass das Gefängnis keine Lösung ist. Erklären Sie das unseren Lesern.
Werner Nickolaj: Zunächst bezieht sich das auf den Jugendstrafvollzug. In der Tat vertrete ich die Auffassung, dass der Jugendstrafvollzug abgeschafft werden sollte. Der Jugendstrafvollzug soll einerseits Strafe sein und andererseits soll er die Jugendlichen erziehen. Erziehung und Strafe lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Hinzu kommt, dass beinah 80 Prozent aller Insassen wieder rückfällig werden und mehr als 40 Prozent wieder erneut inhaftiert werden.

Verstärken negative Erfahrungen im Knast noch die Abkehr von der Gesellschaft?

Werner Nickolai

Foto: privat

Zur Person: Werner Nickolai (geb. 1950), ist Professor für Soziale Arbeit und Straffälligenhilfe an der Katholischen Hochschule Freiburg. Als Sozialarbeiter war er von 1974 bis 1989 in der Jugendvollzugsanstalt Adelsheim (Baden-Württemberg) tätig. An der Universität Heidelberg studierte er Erziehungswissenschaften und Kriminologie.


Ich gehe mal davon aus, dass die Erfahrungen im Knast nicht dazu geeignet sind, sich der Gesellschaft zuzuwenden. Hier muss aber auch gesagt werden, dass nicht nur der Strafvollzug versagt. Die hohe Rückfallzahl hat auch damit zu tun, dass die Gesellschaft sich schwer damit tut, Inhaftierte wieder aufzunehmen. Ehemalige Gefangene haben es schwer eine gute Unterkunft und eine zufriedenstellende Arbeit zu finden.

Gehört Gewalt zum Alltag im Gefängnis?
Gewalt ist ein sehr zentrales Thema im Strafvollzug. Dies nicht nur deshalb, weil nicht wenige Jugendliche gerade wegen Gewaltdelikten verurteilt wurden. Es gelingt dem Strafvollzug nicht, die Gefangenensubkultur aufzulösen. Um es ganz hart auszudrücken: Der Strafvollzug kann es nicht gewährleisten, dass die Inhaftierten körperlich unversehrt bleiben. Ich weiß, dass dies eine sehr harte Aussage ist.

Wie soll man Straftätern heutzutage begegnen?
Straftätern sollte man genauso begegnen, wie man jedem anderen Menschen begegnet. Wenn ich mit Straftätern professionell arbeiten will, geht das nur über eine gute Beziehung. Sozialarbeit ist Beziehungsarbeit. Oder noch deutlicher: Sozialarbeit ist ein helfender, kein strafender Beruf. Es gilt auch den straffällig gewordenen Menschen wert zu schätzen. Dabei darf oder muss auch deutlich werden, dass ich sein strafbares Verhalten ablehne.

Wie kann man mit Straftätern konkret arbeiten?
Das Jugendgerichtsgesetz sieht neben dem Strafvollzug, den ich, wie schon gesagt, ablehne, eine Menge anderer Reaktionsformen auf strafbares Verhalten vor. Hier sehe ich in erster Linie den Täter-Opfer-Ausgleich, aber auch Soziale Trainingskurse oder das Anti-Gewalt-Training. Gerade diese ambulanten Maßnahmen haben mit Blick auf die Rückfallstatistik deutlich bessere Ergebnisse als der Strafvollzug. Hinzu kommt, dass ja auch Jugendhilfemaßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) möglich sind. Hier reicht die Spanne von Erziehungsberatung, über die Soziale Gruppenarbeit bis hin zum betreuten Wohnen.

Muss man speziell nach der Entlassung stärker einwirken?
Wenn Sie „einwirken“ als Hilfsangebote verstehen, würde ich die Frage mit ja beantworten. Gerade die ersten sechs Monate in Freiheit sind mit Blick auf den Rückfall sehr entscheidend. Mit der Vermittlung einer Wohnung, einer Arbeitsstelle und der Durchführung einer Schuldnerberatung ist schon viel erreicht. Die größte Chance nicht mehr rückfällig zu werden, besteht aber in einer tragfähigen Beziehung. Wir brauchen Menschen, die für die Entlassenen da sind, die sie begleiten und in der Alltagsbewältigung unterstützen.

Gilt das für alle Gefangenen?
Nein. Gefangene, die das Glück haben, durch die Inhaftierung ihre sozialen Beziehungen nicht zu verlieren, brauchen wohl weniger Hilfe.

Werden die sozialen Beziehungen durch einen Gefängnisaufenthalt komplett abgebrochen?
Es gibt Menschen, die sowieso schon geringe soziale Kontakte hatten. Man kann es aber auch andersherum sagen: Je länger die Dauer der Haft, desto mehr verlieren sich die sozialen Bezüge nach draußen. Bei einer Jugendhaft über drei bis vier Jahre wird es besonders schwierig, den Menschen wieder einzugliedern – anders als bei einer relativ kurzen Inhaftierung. Je kürzer sie ist, desto größer ist die Chance, dass die Menschen ihre Beziehungen aufrechterhalten können.

Warum werden solche Ideen nicht längst umgesetzt?
Die Idee, die Entlassung intensiv vorzubereiten und den Entlassenen gerade in der Anfangszeit eng zu begleiten, immer vorausgesetzt, dass er das so will, ist nicht neu. Diese Konzepte gibt es durchaus schon einige Jahre. Aber noch einmal: Gäbe es den Strafvollzug nicht, wären diese Probleme auch nicht existent.

Finanziert sich das von selbst, wenn Sie sagen, dass dadurch weniger Menschen rückfällig werden?
Es ist nicht nur das Geld, das gespart wird. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig wissenschaftliche Erkenntnisse der Kriminologie Eingang finden in eine rationale Kriminalpolitik. Die enorm hohe Rückfahlquote nach einer Inhaftierung und das wirklich gute Abschneiden der ambulanten Maßnahmen, werden offensichtlich ignoriert. Vielleicht halten wir am Strafvollzug deshalb fest, weil unsere Gesellschaft ein hohes Bedürfnis nach Strafen hat.

Worin begründet es sich, dass die Menschen den Drang nach Strafe haben?
Ich kann Ihnen dazu eine kurze Passage zitieren – aus einem Buch des Anstaltsleiters Thomas Galli. Er argumentiert selbst gegen den Strafvollzug. In 15 Jahren seiner Arbeit als Leiter ist er zur Überzeugung gekommen, dass das Gefängnis eine überholte gesellschaftliche Institution sei. In ihr manifestiere sich eine ungerechte, unvernünftige und oft unmenschliche Verteilung der Schuld. Das Gefängnis, sagt Galli, sei mehr als ein Gebäude mit hohen Steinmauern und Stacheldraht. Es sei ein über Jahrhunderte im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein verankertes Symbol. Ein Symbol für Sicherheit, ein Symbol für Rechtsstaatlichkeit, und – vielleicht ist das sein stärkster Grundpfeiler – ein ehernes Symbol für die Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Drinnen stehen die Bösen und draußen die Guten. Ich verstehe das so: Das Gefängnis war eine Errungenschaft gegenüber den körperlichen Strafen wie Hängen oder Vierteilen. Demgegenüber war das Gefängnis also…

ein Fortschritt?
Genau. Aber in der Zwischenzeit ist das Gefängnis, weil es strukturell schlichtweg nicht veränderbar ist, für uns heute keine sinnvolle Institution. Mein Plädoyer lautet deshalb: Wenn schon Knast, dann so kurz wie möglich.


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Interview: Florian Schmitz

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