engels: Herr Birnbacher, sollte jeder Mensch frei entscheiden dürfen, warum und wann er stirbt?
Dieter Birnbacher: Die Umstände und den Zeitpunkt des eigenen Todes zu wählen, gehört im Prinzip zu den Grundfreiheiten. Die sind in Artikel 2 unserer Verfassung verankert – zum Beispiel das Recht auf freie Lebensgestaltung. Dazu gehört meines Erachtens die Freiheit, sein Leben zu beenden. Das gilt aber nur im Grundsatz. Wir wissen, dass viele Menschen aus impulsiven Neigungen heraus Suizid begehen, zum Beispiel durch psychische Krankheiten oder akute Krisen. Darunter fallen über 90 Prozent aller Suizide. In der aktuellen Debatte geht es deshalb um eine kleine Minderheit. Diese Suizide werden begangen, nachdem über Alternativen und Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt wurde. Das sind sogenannte Bilanzsuizide.
Und die befürworten Sie?
Ich halte sie in jedem Fall für ethisch berechtigt. Bei pathologisch bedingten Suiziden besteht dagegen die Pflicht, sie zu verhindern. Bei ihnen besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch rückblickend lieber daran gehindert worden wäre.
Nachdem 2009 das Patientenverfügungsgesetz gekommen ist – was sind weitere Ziele der DGHS?
Es geht uns nicht um die rechtliche Verankerung der aktiven Sterbehilfe. Die ist verboten und daran will niemand rütteln. Es geht nicht um Tötung auf Verlangen, wie es in den Niederlanden möglich ist. Die letzte Verantwortung soll beim Betroffenen selbst liegen. Wir wollen eine Suizid-Assistenz, die rechtlich geregelt ist. Die Beihilfe ist in manchen Gegenden Deutschlands gestattet. Die Bundesärztekammer versucht aber, sie zu verbieten.
Sie wollen konkret also genehmigen, dass ein Arzt ein Medikament bereitstellen darf, es aber nicht verabreicht.
Genehmigen ja, aber nicht verpflichten. Keiner will den Arzt dazu zwingen, diese Leistung zu erbringen. Wir orientieren uns grob an vier Bundesstaaten in den USA. Dort darf ein Arzt, und nur ein Arzt, ein solches Mittel zur Verfügung stellen. Das gilt für Patienten, die aus Sicht des Arztes ein schweres Lebensende vor sich haben.
Die DGHS berät auch Betroffene. Was sagen Sie diesen Menschen?
Man muss zwischen unserer Beratung und der tatsächlichen Beihilfe zum Suizid unterscheiden. Letzteres machen wir nicht. Wir nennen allerdings Ansprechpartner, bei denen sie diese Hilfe finden können – zum Beispiel ausgewählte Ärzte oder Adressen in der Schweiz. Diese Beratung ist außerdem präventiv. Viele, die nach Sterbehilfe fragen, sind in einer Situation, die die Sterbehilfe nicht rechtfertig. Weil es Alternativen gibt, die sie nicht kennen, oder Behandlungen, von denen sie fälschlicherweise glauben, dass sie nicht infrage kommen.
Kritiker werfen den Sterbehilfe-Befürwortern kommerzielle Interessen vor.
Kommerziell ist leicht gesagt. Ich unterscheide zwischen Leistungen, die nötig sind und bezahlt werden müssen – wie jede ärztliche Behandlung. Andererseits gibt es Behandlungen, bei denen nach Gewinn gestrebt wird. Ich weiß von zwei Sterbehilfe-Gesellschaften, dass sie im Visier von Gesundheitsminister Hermann Gröhe sind. Sie stehen im Verdacht, gewinnorientiert zu agieren. Das ist aber schwer nachweisbar. Wenn es so wäre, wäre das Verbot dieser Gesellschaften zweifellos gerechtfertigt. Niemand sollte mit dem Tod Geschäfte machen. Es liegt dann nahe, dass der Wunsch nicht eingehend geprüft, sondern vorschnell gehandelt wird.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass sich Menschen sozial unter Druck gesetzt fühlen könnten.
Das sind berechtigte Bedenken. Wir müssen davon ausgehen, dass unsere Gesellschaft weiter altert. Für viele wird die Pflege älterer Menschen eine Belastung darstellen. Deshalb besteht eine gewisse Versuchung, Todeswünsche und Wünsche nach dem Abbruch einer Behandlung zu suggerieren.
Wie wollen Sie das verhindern?
Die Situation des Betroffenen muss natürlich geprüft werden. Es muss Kontrollen und Sorgfaltskriterien geben, ob eine freie Entscheidung vorliegt. Das ist Aufgabe des Sterbehelfers. Ideal wäre der Hausarzt, der die Familie und die Verhältnisse kennt.
Worin ist ihr persönliches Engagement für die DGHS begründet? Haben Sie Erfahrungen hinsichtlich unwürdiger Zustände beim Tod eines anderen Menschen gemacht?
Mein Engagement ist einerseits professionell begründet – ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Medizinethik. Die Selbstbestimmung der Patienten hat immer mehr an Bedeutung gewonnen. Andererseits habe ich erlebt, dass ein naher Angehöriger sehr dringlich um Sterbehilfe gebeten hat.
Wie stellen Sie sich Ihren eigenen Tod vor? Wollen Sie selbst entscheiden, wann es soweit ist?
Ich erkenne an, dass es ganz unterschiedliche Bilder von einem „guten Tod“ gibt. Für manche ist es ein allmähliches Hinübergleiten mit langsamem Erschlaffen der körperlichen und geistigen Kräfte. Andere wünschen sich das nicht, weil sie sich nicht passiv ihrem Schicksal hingeben wollen. Und so sehe ich das auch. Ich möchte das Ende möglichst bewusst und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte erleben.
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