engels: Frau Dağdelen, der Schlachtruf Ihrer neuen Bewegung lautet #Aufstehen. Fehlt es unserer Gesellschaft bislang etwa an Standvermögen?
Sevim Dağdelen: Es geht um eine Politik für die Mehrheit der Bevölkerung, eine Politik für die Millionen nicht für die Milliardäre. Hier muss sich einfach etwas ändern. Der große Zuspruch für #Aufstehen von bereits über 85.000 Menschen binnen nur zwei Wochen zeigt doch, dass es ein großes Bedürfnis in der Gesellschaft gibt, hier nicht einfach auf ein „Weiter so“ zu setzen. Wir haben eine Reichtums- und Armutsverteilung wie 1913, also zu Kaisers Zeiten. Diese Entwicklung spitzt sich weiter zu. Der große Zuspruch zu #Aufstehen zeigt, dass es eine starke Sehnsucht gibt, dies zu ändern. Alle Umfragen zeigen, dass eine deutliche Mehrheit im Land die soziale Spaltung ablehnt und für soziale Gerechtigkeit eintritt. Wir wollen dazu verhelfen, dass diese gesellschaftliche Mehrheit auch eine politische wird.
Die Bewegung richtet sich „gegen die herrschende Linie bei Grünen, SPD und Linken“. Was genau meinen Sie damit? Welchen anderen Kurs wollen Sie einschlagen, was wollen Sie anders machen?
Es gibt in Deutschland große gesellschaftliche Mehrheiten für sichere Renten, höhere Löhne und bezahlbare Mieten – allein, diese Mehrheiten spiegeln sich im Parlament nicht wieder. Die Sammlungsbewegung #Aufstehen will dies ändern und Druck machen, auch damit die Parteien ihre Listen öffnen für Kandidatinnen und Kandidaten, die sich der Wiederherstellung des Sozialstaats und einer friedlichen Außenpolitik verpflichtet sehen. Tatsache ist, dass es keine soziale Mehrheit im Bundestag gibt. Alle Anträge für gute Renten, höhere Löhne, eine stärkere Besteuerung von Millionenvermögen und Verbesserung sozialstaatlicher Sicherungen werden zurückgewiesen. Die Grünen orientieren zudem sehr stark auf eine Reservefunktion für Angela Merkel und die SPD verteidigt im Kern immer noch die neoliberale Agenda 2010.
Kritiker werfen Ihrer Bewegung vor, sie könnte das linke Lager nicht einen – auch, da das linke Lager seit jeher zerstritten ist. Was entgegnen Sie?
Dass sich Mitglieder aus Linken, SPD und Grünen gemeinsam engagieren, zusammen mit vielen, die sich ganz von der Politik und von Parteien abgewendet haben, ist bereits ein großer Erfolg. Rechthaberei und Sektierertum – zwei durchaus verbreitete Dinge in der gesellschaftlichen Linken – muss man angehen, dann hat diese soziale Bewegung die Möglichkeit sehr stark zu werden. Ich glaube, dass auch ein gewisses Beharrungsvermögen eine Rolle spielt. Wenn die SPD-Spitze in Reaktion auf #Aufstehen erklärt, ihre Partei sei die linke Sammlungsbewegung seit 1863, dann gibt das zumindest einen Hinweis, warum es bisher so schwer war, hier enger zusammenzuarbeiten.
Bereits 2010 wurde das Institut Solidarische Moderne (ISM) ins Leben gerufen, um eine partei- und organisationsübergreifende Debatte unterschiedlicher linker Strömungen zu führen. Ihre Partei ist dort ebenfalls mit namhaften Persönlichkeiten vertreten. Ist dieser Versuch gescheitert?
So wie ich es beobachte, geht die Diskussion im ISM weiter. Zentrale Akteure unterstützen – wie der Soziologe Stephan Lessenich – sogar neue Parteigründungen wie MUT in Bayern. Da scheint es doch ein großes Maß an Toleranz zu geben.
#Aufstehen-Gründungsvorsitzender Bernd Stegemann spricht sich gegen eine „wohlmeinende bürgerliche Klasse“ aus, die „mit Rührung auf das Elend der Welt“ blicke und dabei blind sei für die sozialen Nöte im eigenen Land. Für sie sei der Klassenkampf vorbei; es gehe nur noch um eine „biopolitische Perfektionierung des Alltags und die Sprachregelungen der Political Correctness“. Wie beurteilen Sie diese Aussage?
Wir haben ja tatsächlich das Phänomen, dass Oligarchen in Deutschland zwar auf eine Politik der brutalen Ausbeutung setzen aber zugleich diese Ausbeutungsverhältnisse, die die Quelle ihres enormen Reichtums darstellen, durch allerlei philanthropische Aktivitäten zu verschleiern versuchen. Man muss die sozialen Verhältnisse wieder schonungslos benennen und auch die Quelle des Reichtums einiger weniger in diesem Land, sonst verstellt man sich den Blick für Veränderungen.
Lassen Sie uns darüber sprechen, wie Sie sich persönlich in die Linke Sammlungsbewegung einbringen wollen.
Ich halte den Plan der großen Koalition, die deutschen Rüstungsausgaben auf 85 Milliarden Euro pro Jahr zu verdoppeln, für wahnsinnig. Hier möchte ich mithelfen, dass #Aufstehen gegen diese gigantische Aufrüstung mobilisiert. Wir brauchen mehr Geld für eine bessere, soziale Infrastruktur aber nicht für Rüstung. Wir wollen mehr Kitas statt neue Kriegsschiffe, Schulspeisung statt neue Panzerarmeen und sichere Renten statt Militärkorvetten. Dafür lohnt es sich mit der Sammlungsbewegung zu kämpfen.
Blicken wir von der linken in die rechte Ecke: Die AfD sitzt im Bundestag und in zahlreichen Landesparlamenten, die CSU lenkt immer mehr einen rechtsnationalen Kurs ein. Teile der Bevölkerung geben den Parteien recht in ihrer Richtungspolitik. Wie erklären Sie sich diesen politischen Wandel in Deutschland, wie den Einflussverlust linker Parteien?
Wir stehen in den Umfragen stabil bei 9 bis 10 Prozent, bei der letzten Bundestagswahl haben wir 500.000 Stimmen dazugewonnen. Aber wir müssen uns fragen, warum wir Arbeiter und Arbeitslose als Wähler verlieren und nicht stärker erreichen und von den rund 10 Millionen Wählern, die die SPD seit 1998 verloren hat, lediglich zwei Millionen zur Linken gegangen sind. Ich glaube die Sammlungsbewegung kann ein Aufbruch sein und helfen, den Vormarsch der Rechten zu stoppen, auch indem die sozialen Themen endlich wieder in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion gestellt werden. Die AfD im Bundestag kann nichts als plumpe rassistische Stimmungsmache. Es wird zudem überdeutlich, dass die AfD eine Partei ist, die den Sozialstaat zerschlagen will und auf einen radikalen Neoliberalismus setzt.
Eines der erklärten Ziele von #Aufstehen ist, Wählerinnen und Wähler der AfD zurückzugewinnen. Wie wollen Sie das anstellen?
Es bedarf hier einer ganz klaren Entlarvungsstrategie gegenüber der antisozialen Politik der AfD. Wer für soziale Gerechtigkeit und eine friedliche Außenpolitik steht, ist richtig bei #Aufstehen, aber ganz falsch bei der AfD. Es scheint in Europa zur Faustregel zu werden, dass überall dort, wo es keine linke Sammlungsbewegungen gibt, der Zerfall der Sozialdemokratie mit starken Zugewinnen für die extreme Rechte und Rechtspopulisten gekoppelt ist. Diese Entwicklung muss jeden fortschrittlichen Menschen umtreiben. Wir wollen dagegenhalten.
Sie, Antje Vollmer (Grüne) und Marco Bülow (SPD) haben jüngst einen Gastbeitrag im Spiegel verfasst. Eine neue linke Sammlungsbewegung hätte einen „Anlass, ein Momentum, auch einen Erwartungs- und Hoffnungshorizont“. Sie sei keine neue Partei, sondern verstehe sich als außerparlamentarische Bewegung, die neue Themen und Positionen in die öffentliche Debatte bringen solle. „Aufbruch aus dem Elfenbeinturm in die Wirklichkeit! – das ist das Gebot der Stunde“, heißt es in dem Beitrag. Glauben Sie wirklich, dass Sie bis zur Europawahl und zur nächsten Bundestagswahl einen Wandel, ein Umdenken (auch in Bezug auf das Thema Flüchtlinge) in der breiten Masse der Gesellschaft erreichen können?
Noch bevor die Sammlungsbewegung richtig startet, wird bereits deutlich, dass auf uns reagiert wird. Zumindest waren von der SPD lange keine sozialen Vorstöße bei Hartz IV und Rente mehr zu beobachten. Das reicht nicht und in der Koalition mit der CDU/CSU wird das auch alles nichts, aber zumindest meint man offensichtlich, auf unsere Sammlungsbewegung reagieren zu müssen. Das kann ein Anfang sein.
Am 4. September 2018 geht es los mit Ihrer neuen linken Sammlungsbewegung. Worauf dürfen wir gespannt sein?
Lassen Sie sich überraschen!
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