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Klaus Dörre
Foto: Jan-Peter Kasper/Uni Jena

„Viele wissen nicht, wofür die Linkspartei steht“

30. August 2018

Der Soziologe Klaus Dörre über Linksvisionen in der deutschen Politik

engels: Herr Dörre, was sind heutzutage linke Visionen?
Klaus Dörre: Es gibt eine Fülle an linken Visionen, die in der Praxis erprobt werden, von den Grasroots-Initiativen in der Flüchtlingssolidarität bis zu Initiativen in der Energiewende. Bezüglich einer politischen Philosophie gibt es gegenwärtig eine große Leerstelle. Erstens  schien es nach der Implosion des Sozialismus so, als sei der marktwirtschaftlich-soziale Kapitalismus das Optimum an gesellschaftlicher Evolution. Zweitens setzt sich bei Regimes, die als linksnationalistische in der Arabischen Welt oder mit sozialistischen Vorstellungen in Lateinamerika oder Afrika zur Macht gekommen waren, eine Tendenz durch, die man mit Hannah Arendt als „Akkumulation politischer Macht“ bezeichnen kann. Ein Streben nach immer größerer Machtausübung, das sich von seinen ökonomischen Voraussetzungen abgelöst hat, etwa in Nicaragua, Venezuela, Angola oder Mozambique. Zusammen mit Nominalsozialismen wie in Nordkorea führt es dazu, dass sozialistische Visionen und Utopien diskreditiert sind.

Werden linke Visionen heute ausreichend kommuniziert?
Für Deutschland galt diese Problematik in besonderem Maße. Wir haben mit der DDR einen untergegangenen Sozialismus vor Augen. Daher ist es nicht leicht, linke Visionen zu entwickeln. Es gibt sie in der außerparlamentarischen, teilweise radikalen Linken, unterschiedlich ausgeprägt in der Linkspartei, im geschrumpften linken Flügel der Sozialdemokratie, im geschrumpften linken Flügel der Grünen, in den Gewerkschaften und kirchlichen Kreisen. Ich kann nicht erkennen, dass in diesem Spektrum der „Mosaiklinken“ an großen Würfen gebastelt wird. Die Diskussion über einen neuen Ökosozialismus versucht, ein neues Label für Veränderungen zu finden.

Warum spielen Krisen den Rechten in den Hände, nicht den Linken?
Die deutsche Linke hat in Krisenperioden noch nie gewonnen. Es gab eine Polarisierung am Ende der Weimarer Republik und den Aufstieg der Faschisten infolge der Weltwirtschaftskrise. Haben wir es gegenwärtig mit einer Krise zu tun? Wir erleben die längste Wachstumsphase in der Geschichte der Bundesrepublik seit 2008/09. Wir haben Rekordzahlen an Erwerbstätigkeit. Wir haben sinkende Arbeitslosigkeit, selbst im Osten. Wir haben es mit einem langfristigen Umbruch und flachen Wachstumsraten zu tun. Vom Wachstum kommt bei vielen wenig bis nichts an. Wir haben es mit einem Anwachsen prekärer Dienstleistungsjobs zu tun, insbesondere für Frauen. Wenn Wirtschaftswachstum auf fossilistischer Basis erzeugt wird, führt es zur Verschärfung ökologischer Gefahren. Das bezeichne ich als ökonomisch-ökologische Zangenkrise. Die Konstellation zwingt die frühindustrialisierten Länder zu einer tiefgreifenden Transformation ihrer Produktionsstruktur sowie ihres Industrie- und Reproduktionsmodells. Wir stehen von den ökonomischen Leistungsdaten her blendend da, aber allen ist klar, dass in naher Zukunft dramatische Umbrüche bevorstehen. Niemand hat genaue Lösungen, auch die Eliten nicht. Keine politische Kraft verfügt über attraktive Visionen, so dass die Menschen Bereitschaft zu großen Veränderungen entwickeln. Das ist das Hauptproblem. Die Arbeiterbewegungen sind mit dem Impetus aufgetreten, die Zukunft einer besseren Gesellschaft zu verkörpern. In der jetzigen Umbruchsituation herrscht Ratlosigkeit und das Empfinden, dass sich dramatisch viel geändert hat. Es gibt viele Befürchtungen für die Zukunft der Gesellschaft und der Kinder, die nicht übersetzt werden in glaubwürdige, zukunftsorientierte Politik. In Interviews sagen AfD- und Pegida-Anhänger: „Das ganze System ist faul.“ Es herrscht eine diffuse Ahnung, dass das alte Gesellschaftsmodell für die Problemlösung ungeeignet ist. Entscheidend ist: Wenn man die Kausalitäten für die Krisenprozesse thematisiert, stößt man auf eine ungeheure Komplexität. Erklären Sie mal, was die Entwicklung an den Finanzmärkten mit der Arbeitssituation von Erziehern zu tun hat. Die Rechten haben es einfach. Sie appellieren an das Ressentiment: Wenn Flüchtlinge kommen, wird das eigene Stück vom Kuchen noch kleiner. Das wird auch seitens der Eliten geschürt. Es ermöglicht Negativprojektionen auf Geflüchtete. Dagegen mit rationalen Argumenten anzukommen, ist nicht leicht – die Linke hat aber keine andere Chance.

Die Zunahme von Fremdenfeindlichkeit hängt mit dem Abrutschen von Bevölkerungsteilen in Arbeitslosigkeit und Armut zusammen. Warum unternimmt die Regierung so wenig dagegen?
Die Agendapolitik seit der Regierung Schröder setzt darauf, dass Vorsorge für Gesundheit und Alter immer stärker privat geleistet wird. Das wird mit Modifikationen bis heute fortgeführt. Das ist das Dilemma der Sozialdemokratie. Damit hat eine Entproletarisierung eingesetzt, also die Aufgabe der alten Stammwählerschaft, der Industriearbeiter und Gewerkschafter. Diese Gruppe ist geschrumpft, entscheidet aber immer noch über Wohl und Wehe der SPD mit. Um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, müsste man in der Rentenpolitik eine Kehrtwende machen. Die untersten vier Einkommenszehntel hatten über 20 Jahre lang Reallohnverluste zu beklagen. Denen kommt es wie Hohn vor, wenn man predigt, sie müssten privat für die Altersvorsorge eintreten. Diese sind am stärksten betroffen von prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und gebrochenen Erwerbsbiographien, was sich auf die Rente auswirkt. Glaubwürdige Lösungen wären, die öffentlichen Rentenkassen zu stärken und das Rentenniveau aufzustocken. Man sollte Finanzierungsmöglichkeiten durch Umverteilung schaffen, sodass die unteren Einkommensklassen ein Leben in Würde führen können. Diese Kehrtwende kann ich nicht erkennen. Warum das so ist, muss man die Entscheidungsträger fragen. Diese Lücke könnte von Links besetzt werden. Gegenwärtig versucht die AfD diese Lücke zu nutzen, deren Rentenkonzept die Stärkung der öffentlichen Kassen vorsieht. Der Pferdefuß ist, dass bessere Renten nur für deutsche Staatsbürger gelten sollen. Die anderen würden leer ausgehen. Das basiert auf der Überausbeutung von Migranten. Da steckt Rassismus drin. Vermutlich springen viele auf das Versprechen, die öffentlichen Renten zu stärken, an. Die Verbindung mit „Deutsche zuerst“ ist Sozialpopulismus, gepaart mit Rassismus ohne Rassenbegriff.

Die neue linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafointaine will Menschen, die nach rechts tendieren, nach links zurückholen. Kann das funktionieren?
Ich habe Zweifel. Sich Gedanken zu machen, wie es nach einem Scheitern der Großen Koalition weitergehen könnte, halte ich für nötig. Bei den Regionalwahlen im Osten 2019 könnte die AfD eine Sperrminorität bekommen. Die Frage ist berechtigt, warum es der Linkspartei nicht gelingt, über 10% zu kommen. Ich sehe erstens nicht, dass diese Sammlungsbewegung von unten wächst. Zweitens glaube ich nicht, dass Wagenknecht und Lafointaine geeignete Führungspersonen sind. Sie machen den Fehler, Protestwähler von rechts zurückzuholen, indem sie sich für Themen und Politikansätze der Rechten öffnen. Mit Plädoyers für Flüchtlingsobergrenzen passen sie sich an den Diskurs der populistischen Rechten an. Das hat noch nie funktioniert. Ich halte das für eine diskursive Aufwertung dessen, was man zu bekämpfen vorgibt. Das stärkt eher die Rechten. Die CSU erlebt das gerade in Bayern. Ich glaube, das wird auf der Linken nicht anders sein. Für viele Wähler war es im letzten Bundestagswahlkampf ein Dilemma: Zählt jetzt Flüchtlingsarbeit oder Obergrenze? Sie wissen nicht, wofür die Linkspartei steht. Das ist das Kernproblem. Es gibt einen libertären Flügel, repräsentiert durch Katja Kipping, der mit Plädoyers für offene Grenzen und Grundeinkommen punktet, aber nicht geeignet ist, gewerkschaftliche Arbeiter oder das neue Dienstleistungsproletariat anzusprechen. Dann haben wir den Wagenknecht-Lafontaine-Flügel, die sich in den Mauern des nationalen Wohlfahrtsstaates verbarrikadiert. Es ist aber kein einziges Problem, von der ökologischen über die Um- und Rückverteilungsproblematik bis hin zu Finanz- und Wirtschaftsrisiken, auf rein nationaler Ebene anzugehen. Zwischen diesen Polen gibt es ein winziges Zentrum der Vernunft um den Parteivorsitzenden Bernd Riexinger, der das linksalternative und gewerkschaftliche Lager repräsentiert. Er hat für ein „Neues Normalarbeitsverhältnis“ votiert, Themen wie Wirtschaftsdemokratie und neue Klassenpolitik aufgegriffen und für einen neuen Sozialismus plädiert. Diese Stimme der Vernunft könnte zwischen den Polen vermitteln. Aber Riexinger wird nicht genügend respektiert. Das führt zum Auseinanderfallen der Linken. Die einzige Chance wäre, wenn die Linke sich wieder als „Mosaiklinke“ verstehen würde. Der Begriff stammt vom Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban. Die unterschiedlichen Teile der Linken repräsentieren als Steinchen im Mosaik Eigenes und Unterschiedliches bei der Entwicklung von Zukunftsvorstellungen, aber das Gemeinsame muss betont werden. Dieser Impetus schien nach 1989 der einzig mögliche zu sein, ist jedoch in weiten Teilen der Linken inzwischen vergessen – das ist das Grunddilemma.


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