engels: Herr Fehlau, Sie haben Ihre ersten Schritte in Sachen Radfahren im Bergischen Land gemacht. Hätten Sie vor 25 Jahren gedacht, dass hier inzwischen überall auf den alten Bahntrassen geradelt wird?
Diese Entwicklung ist auf jeden Fall sehr erfreulich und zeigt den Mentalitätswandel, der in den letzten Jahren stattgefunden hat. Das Fahrrad hat sich vom vermeintlichen Verkehrsmittel der Verlierer und Alternativen zum Mainstream-Trend entwickelt und genießt heute einen hohen Stellenwert. Im Bergischen Land bieten die Bahntrassen natürlich eine Möglichkeit Menschen, trotz topografischer Hürden, aufs Fahrrad zu locken. Die Nordbahntrasse ist da ein besonders gelungenes Beispiel für einen Impuls, der von infrastrukturellen Projekten ausgehen kann.
Die Nordbahntrasse wird also auch außerhalb Wuppertals als Vorzeigeprojekt wahrgenommen?
Absolut. Das ist ein Projekt mit hoher Strahlkraft, über das in der Radwelt viel gesprochen wird. Wenn ich es richtig verfolgt habe, hat die Nordbahntrasse sogar einen positiven Effekt auf die Immobilienpreise entlang der Trasse gehabt. Was ich interessant finde: Am Ende loben genau diejenigen das Projekt, die ihm am Anfang am skeptischsten entgegenstanden. Also zum Beispiel die Verwaltung oder die Immobilienbesitzer, die der Nordbahntrasse am Anfang nicht viel abgewinnen konnten.
Außerhalb der Vorzeige-Radwege scheint es aber noch viel Nachholbedarf zu geben, nicht nur in Wuppertal. Sind andere Länder, etwa Dänemark oder die Niederlande, da weiter?
Ich finde nicht, dass man das so schwarzweiß sehen sollte. Auch im niederländischen Radverkehr ist nicht alles Gold, was glänzt. Wichtig ist, dass in den einzelnen Verwaltungen der Kommunen ein Umdenken stattfindet. Das ist, wenn es um infrastrukturelle Projekte geht, immer ein langfristiger Prozess. Wir haben es hier in der Regel immerhin mit Vorlaufzeiten von zehn bis 15 Jahren zu tun. Aber der Wandel findet statt: In Städten wie Freiburg, die heute als Vorreiter im Radverkehr gelten, gab es vor dem Fahrradboom auch erhebliche Bedenken gegen das Fahrrad. Bei dem Wandel spielt auch die Finanzlage der Kommunen eine wichtige Rolle: Die Stadtkämmerer haben erkannt, dass Investitionen in den Radverkehr Verkehrsprobleme viel kosteneffektiver lösen als andere Verkehrslösungen. So herrscht heute im weitesten Sinne Einigkeit darüber, dass in der Innenstadt nicht neue Schnellstraßen oder Parkhäuser gebaut werden sollen, sondern stattdessen mehr Platz für Radfahrer geschaffen werden muss.
Wie zum Beispiel in Kopenhagen?
Kopenhagen zeigt, wie man es schafft, große Teile der Stadt aufs Rad zu locken. Dabei spielt übrigens nicht nur eine Rolle, dass die Stadt viel Geld in ihre Radinfrastruktur gesteckt hat. Wichtig sind auch die intelligenten Lösungen, die in Kopenhagen aus der Perspektive der Radler entwickelt wurden. Ein Beispiel: Bei schlechtem Wetter stiegen viele Radfahrer auf die öffentlichen Verkehrsmittel um, die mit dem zusätzlichen Andrang dann schnell überlastet waren. Daraufhin hat man die grüne Welle für Radfahrer eingerichtet. So kann man in Kopenhagen bei Einhalten der Richtgeschwindigkeit mit konstanter Geschwindigkeit durch die Stadt radeln. Das macht das Fahrradfahren auch bei Nieselregeln erträglich.
Neben der Nordbahntrasse: Welche Vorzeigeprojekte gibt es in Deutschland?
Der Radschnellweg 1, der das Ruhrgebiet von West nach Ost, verbinden soll, ist mit Sicherheit ein spannendes Projekt. Auch der Fahrradvolksentscheid in Berlin zeigt, dass sich beim Thema Radfahren in Deutschland etwas tut. Letzen Endes sind diese Projekte aber nur Impulsgeber, die einen grundsätzlichen Wandel in Gang setzen.
Woran macht sich dieser Wandel bemerkbar?
Nehmen Sie die E-Mobilität. Trotz 5000 Euro Prämie ist Angela Merkel von ihrem Ziel, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf den deutschen Straßen rollen zu lassen, im Moment noch etwa 970.000 Autos weit entfernt. Ganz anders sieht es bei den E-Bikes aus. Obwohl diese Räder (im Vergleich mit konventionellen Fahrrädern) ein echtes Investment sind, haben wir in Deutschland inzwischen bereits etwa 2,5 Millionen Elektroräder im Gebrauch. Ein anderes Beispiel ist der Radtourismus. Früher galten Radfahrer Hoteliers und Gastronomen als suspekt. Man hat gedacht: Die haben doch sowieso kein Geld. Heute ist es genau umgekehrt: Radtouristen sind beliebt, weil sie meistens hungrig irgendwo ankommen und meistens auch Zeit mitbringen, länger an einer Stelle zu verweilen und dort Geld auszugeben.
Wie lässt sich der Radverkehr auch im Alltag fördern?
Eine Schlüsselposition haben hier meines Erachtens die Arbeitgeber. Menschen, die mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen, sind nämlich in der Regel gesünder und ausgeglichener als ihre PKW-fahrenden Kollegen. Fahrradfahrer werden nicht nur seltener krank, sondern sind produktiver in ihrem Job. Der Arbeitgeber spart außerdem teuer Parkplätze, wenn er stattdessen Spinde und Duschen für die Radfahrer bereitstellt.
Sie sind auch Herausgeber des fahrstil-Magazins, einer Zeitschrift für Radkultur. Was kann man unter Radkultur verstehen?
Radfahren ist nicht nur ein Verkehrsmittel, sondern ein Lebensgefühl. Fahrradfahren steht für Individualität, Freiheit aber auch für ein rücksichtsvolles und tolerantes Miteinander. Man kann das statistisch belegen: Die Städte, die in Rankings für Lebensqualität ganz oben landen, sind meistens auch bekannt für ihren vorbildlichen Radverkehr. Egal, ob es jetzt Amsterdam, Kopenhagen, Portland oder Vancouver ist.
Sie sind selbst leidenschaftlicher Radfahrer und bereits auf der ganzen Welt geradelt. Gibt es eine Tour, die Sie noch gerne unternehmen wollen?
Da gibt es eine ganz lange Liste von Touren, die ich noch gerne unternehmen möchte. Das ist das Schöne am Fahrradfahren: Die schönste Tour ist immer die, die als nächstes bevorsteht.
In diesem Jahr feiern wir in Deutschland den 200. Jahrestag der Erfindung des Fahrrads. Wenn Sie in die Zukunft schauen: Wohin wird sich das Fahrrad entwickeln? Wird das Fahrrad irgendwann vielleicht sogar das Auto ersetzen?
Ich halte nichts davon, Fahrräder und Autos gegeneinander auszuspielen. Wichtig ist es vielmehr, dass das Potential des Fahrradfahrens urbar gemacht wird. Beispielsweise durch eine flächendeckende Förderung des Radverkehrs in den Kommunen. Und dann hoffe ich natürlich, dass nicht nur in diesem Jubiläumsjahr überall über das Fahrradfahren gesprochen wird, sondern auch weit darüber hinaus. Aber da mache ich mir im Moment nicht wirklich Sorgen.
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