Hans Steinbichler (*1969) studierte an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film und legte mit dem modernen Heimatfilm „Hierankl“ (2003) einen Abschlussfilm vor, der u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Mit seinem damaligen Hauptdarsteller Josef Bierbichler drehte der auch für das Fernsehen tätige Autor und Regisseur außerdem das Psychodrama „Winterreise“ (2006), mit Hannelore Elsner und Juliane Köhler „Das Blaue vom Himmel“ (2011). „Das Tagebuch der Anne Frank“ läuft ab dem 3. März im Kino.
engels: Herr Steinbichler, wann haben Sie Anne Franks Tagebuch das erste Mal gelesen?
Hans Steinbichler: Ich war 13, 14 Jahre alt, als mein Vater davon sprach, dass es um diese Zeit und die Gräuel der Nazis geht. Ich las rein und dachte, da steht ja gar nichts davon drin. Auch der persönliche Zugang fehlte mir als Junge in dem Alter. Daher war mein Eindruck damals eher blass und ich habe das Buch nicht zu Ende gelesen.
Wie unterschied sich die Leseerfahrung jetzt, vor dem Projekt?
Das war extrem. Die Produzenten boten mir den Stoff an und ich stellte mir sogleich zwei Fragen: Wie begegnet man einem Mythos? Und warum soll man das noch mal erzählen? Ich beschloss, das Tagebuch ganz neu und unbefangen zu lesen und muss sagen, dass das dann ein ziemlicher Flash war. Ich merkte plötzlich, dass ich tatsächlich einen einmaligen Bericht vor mir hatte. Einen Text, der so toll geschrieben ist, dass es für mich schlicht unvorstellbar ist, dass Anne ihn vor über 70 Jahre gedacht hat.
Und warum wollten Sie Annes Geschichte erneut erzählen?
Ich wusste schon beim Lesen, dass es sich absolut lohnt. Wenn man nur den Menschen Anne nimmt, dann ist das so exemplarisch und so eine starke Erzählung, dass man nichts mehr hinzufügen muss. Ich will mit diesem Film junge Leute erreichen, die ganz ohne Vorwissen zwei Stunden mit dem Menschen Anne verbringen.
Sie haben sonst auch selbst Drehbücher geschrieben. Wie war jetzt die Arbeit mit Fred Breinersdorfers Skript?
Als ich zu dem Projekt dazu kam, standen noch große Kriegsszenarien in Amsterdam im Raum. Die waren aus Budgetgründen nicht zu realisieren. Wir haben dann zusammen aus diesem vermeintlichen Mangel das Entscheidende herausgearbeitet: eine Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mädchens, ihre subjektive Sicht auf die Welt um sie herum.
Dies war nicht Ihre erste Inszenierung nach wahren Begebenheiten…
Ich habe für das Fernsehen „Landauer“ gemacht, einen Film über den jüdischen Präsidenten des FC Bayern in der NS-Zeit. Und auch nach „Anne Frank“ habe ich wieder einen Film über eine wahre Begebenheit gedreht. Ich will mich eigentlich nur noch mit wahren Geschichten beschäftigen, weil diese so viel komplexer, interessanter und unwahrscheinlicher sind als alles, was man erfindet.
So wie Sie jetzt am Ende das Terrain des Tagebuchs verlassen und zeigen, was weiter mit Anne und ihrer Familie geschah?
Das war für mich schon im Vorfeld die Prämisse: Annes Geschichte zu Ende zu erzählen. Die Zuschauer sollen wissen, dass dieses Mädchen von den Deutschen ermordet wurde. Bei der Frage, wie wir das formal machen, kam die Idee, dass sie ihre Empfindungen in die Kamera spricht. So auch den von uns imaginierten Text, in dem sie den Weg ihrer Familie von Amsterdam nach Auschwitz beschreibt.
Sie lassen Ihre Protagonistin an mehreren Stellen sozusagen die vierte Wand durchbrechen.
Meine Überlegung war: Wie kann man dem Umstand fassbar machen, dass wir es hier mit Gedanken zu tun haben? Etwas, das lebt, atmet und nicht nur ein Text ist. Als ich Passagen daraus laut sprechen ließ, wurde klar, dass ich so am besten die Verbindung zwischen einem fiktiven Film und der Form des Tagebuchs herstellen kann. Wenn Lea van Acken uns dabei ansieht, entsteht ein Moment von großer Wahrhaftigkeit.
Eine starke Hauptdarstellerin. War sie schwer zu finden?
Ich hatte mich auf einen Marathon eingestellt, denn ich hatte eine bestimmte Vorstellung von diesem Mädchen. Sie sollte nicht Anne Frank sein, sondern deren Geist widerspiegeln. Als Lea reinkam und den Mund aufmachte, wusste ich: Das ist sie. Am ersten Casting-Tag, die zweite Person – ein unglaubliches Glück.
Was war Ihnen wichtig für das ästhetische Konzept?
Ich hatte an Ausstattung, Kostüm und Maske nur einen Wunsch. Dass wir den Film so weit es nur geht ins Heute, ins Jetzt holen. Die Franks waren eine moderne Familie, das wollte ich hervorheben. Mir kam vor, dass dieser Stoff so nah an unserer Wirklichkeit ist, wie wir es gar nicht vermuten. Ich habe ästhetisch alles getan, um das nach vorne zu bringen und vergessen zu lassen, dass es eine angeblich historische Geschichte ist.
Diese gewisse Zeitlosigkeit in der dezidiert historischen Geschichte könnte ein guter Weg sein, heutige Altersgenossen Annes zu erreichen.
Das ist genau der Punkt. Der Sinn ist doch nicht, dass ich rein ästhetische Überlegungen anstelle. Sondern: Wie kann ich einen Minimalabstand herstellen zu jungen Leuten im Alter meiner Kinder, damit sie das Ganze nicht öde oder weit weg finden? Es gibt aber gewisse Erfahrungswirklichkeiten, die sich nie ändern. Und daran kann man andocken.
Und was wünschen Sie sich, dass insbesondere junge Zuschauer aus Ihrem Film mitnehmen sollen?
Dass Anne Frank keine Heilige war, sondern ein ganz normales Mädchen, das ungemein scharf beobachtet hat. Von ihrer Geschichte sollte hoffentlich hängenbleiben, wie nah wir an Zuständen sind, die es erlauben, andere qua Geschlecht, Religion oder Ethnie auszugrenzen. Wenn man sich mit diesem Mädchen über zwei Stunden verbunden hat, dann versteht man, wie weh es tut und wie zutiefst ungerecht es ist, wenn jemand einfach weggenommen und dann umgebracht wird. Das finde ich einen so unglaublichen Umstand – und den kann man nur erzählen, wenn man so nah an dieser Person ist, wie wir es hier sind.
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