engels: „Gier ist gut“ ist ein Zitat aus Oliver Stones Film „Wall Street“ von 1987, das viele Befürworter des Kapitalismus durchaus unterschreiben würden. Was ist damit gemeint?
Sighard Neckel: „Greed is good“, Gier ist gut, ist, wenn man so will, die zeitgemäße Variante einer uralten wirtschaftsliberalen Überzeugung: nämlich, dass grenzenloser Eigennutz am Ende für alle anderen ebenfalls den größtmöglichen Nutzen erzeugen würde. Wenn nur jeder entschlossen nach seinem höchsten Vorteil strebt, kommt am Ende ein allgemeines gesellschaftliches Wohl dabei heraus. Das meint auch der Satz „private vices, public benefits“ [private Laster, öffentliche Vorteile; d. Red.] aus der „Bienenfabel“ von Bernard Mandeville: Das private persönliche Laster der Raffgier erbringt am Ende einen öffentlichen Nutzen. Bis zum heutigen Tag ist das die urliberale Erzählung von den Wohltaten des Kapitalismus. Das hat Oliver Stone in „Wall Street“ eigentlich nur in einer moderneren Variante formuliert, die sich auf den aktuellen Finanzmarktkapitalismus bezog.
Kritiker meinen „Gier“ als Vorwurf, als Grundübel des Kapitalismus. Die genannten Befürworter beklagen dagegen eine „Neiddebatte“.
Das Argument der „Neiddebatte“ ist ziemlich verfehlt. Gehen wir noch einmal zur Finanzkrise von 2007/08 zurück und zu den Folgen, die sich in den Jahren danach eingestellt haben und ja bis heute vielfach nicht bewältigt wurden – was die Verschuldung öffentlicher Haushalte, was die wirtschaftlichen und sozialen Folgen insbesondere in südeuropäischen Ländern betrifft. Dort hat das „Laster“ der kapitalistischen Gier dazu geführt, dass kein allgemeiner Nutzen entstanden ist, sondern ein immenser allgemeiner Nachteil, der von den Steuerbürgern überall auf der Welt beglichen werden musste. Gerade die Finanzkrise ist gutes Beispiel dafür, wie trügerisch die liberale Auffassung ist, dass aus dem Streben nach Eigennutz am Ende ein allgemeiner Wohlstand entstehen würde, denn aus der Finanzkrise heraus entstanden unglaubliche wirtschaftliche Verluste in Billionenhöhe. Alleine in Deutschland sind, soweit ich weiß, 500 Milliarden Euro volkswirtschaftlicher Schaden entstanden, der letztlich auf Kosten der Steuerzahler ging. Die musste die Banken retten und deren Verbindlichkeiten erfüllen, mussten empfindliche Einsparungen der öffentlichen Haushalte und eine zunehmende Austeritätspolitik hinnehmen, damit die Verluste der Finanzkrise wieder wettgemacht werden konnten. Es ist ja kein Zufall, dass sich in den Jahren nach der Finanzkrise, bis in die heutige Zeit, die Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus verstärkt hat und Formen der Reichtumsvermehrung, die auf Kosten der Allgemeinheit gehen, weniger denn je Zustimmung finden. Insofern ist das mit dem Neid-Vorwurf völlig verfehlt. Es hat ja nichts mit Neid zu tun, wenn man darüber klagt, dass die höchsten spekulativen Gewinne privat eingesteckt werden, während die höchsten finanziellen Verluste von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Da steckt ein gesundes Gerechtigkeitsempfinden drin, aber kein Neid.
„Gerade die gewinnträchtigsten Investitionen haben die katastrophalsten Folgen“
„Private vices, public benefits“ – galt das jemals?
Sagen wir es so: Zu bestimmten Zeiten mag das eine gewisse Realität gewesen sein. Und zwar immer dann, wenn die Gewinnsteigerungen von Unternehmen teilweise an die allgemeine Bevölkerung abgegeben wurden. In der Wirtschafswissenschaft nennt man das den sogenannten Trickle-Down-Effekt: Hohe Gewinne auf der Kapitalseite führen zur Besserstellung der eigenen Belegschaften und allgemein der Bevölkerung . Das hat es zu bestimmten Zeiten der wirtschaftlichen Entwicklung im modernen Kapitalismus tatsächlich gegeben. Die 50er bis 70er Jahre des letzten Jahrhunderts sind damit einher gegangen, dass der zunehmende Wohlstand der wirtschaftlich Mächtigen den Wohlstand der Allgemeinheit nicht ausgeschlossen hat, wenn auch nicht in dem Maße wie auf der Kapitalseite. Aber gerade die Finanzkrise zeigte, dass von diesem Trickle-Down-Effekt der Wohlstandsteigerung, die von den Reichen zu den weniger Begüterten durchgereicht wird, in der heutigen Zeit so nicht mehr die Rede sein kann. Wenn sie heute vergleichen, wie die Kapitalerträge im Vergleich zu den Einkünften von Gehaltsempfängern gestiegen sind, steht das in keinem Verhältnis. Außerdem reden wir heute nicht allein über ökonomische Verhältnisse im engeren Sinne, sondern wir diskutieren auch vielfach darüber, welche zerstörerischen Wirkung mit dieser Art der kapitalistischen Wirtschaftsweise darüber hinaus verbunden sind. Dazu gehören vor allem die Zerstörung des Ökosystems und der Klimawandel. Hier kann man mitnichten sagen, dass das private Laster der Gewinnlust einen allgemeinen Nutzen oder Wohlstand zur Folge hätte, ganz im Gegenteil. Gerade die Wohlhabendsten in der Gesellschaft sind es, die am meisten zur Schädigung des Klimas beitragen, gerade die gewinnträchtigsten Investitionen, die weiterhin in fossile Energien und Industrien gehen, haben die katastrophalsten Folgen.
Wie wird Gier zum Marktmechanismus, zum Selbstzweck?
Gier ist so etwas wie ein affektiver Antrieb, eine starke Leidenschaft. Oft wird in der Öffentlichkeit so getan, als ob die fragwürdigen Folgen des rücksichtlosen Gewinnstrebens in der Wirtschaft der persönlichen Charakterschwäche der führenden wirtschaftlichen Akteure geschuldet sind, die in ihrer psychologischen Ausstattung von Gier getrieben seien. Auch von höchster politischer Stelle ist im Anschluss an die Finanzkrise die Raffgier der Banker gescholten worden, so dass es so aussehen konnte, als ob solche Ereignisse dem persönlichen Fehlverhalten einzelner Banker geschuldet wären – und nicht einer wirtschaftlichen Handlungslogik, insbesondere im Finanzsektor, die Gier systematisch erzeugt und erforderlich macht. Gier ist im modernen Finanzwesen so etwas wie ein typisches Handlungsprinzip. Wenn wir unter Gier ein maßloses Verlangen verstehen, das nicht gestillt werden kann, eine Unersättlichkeit des Strebens nach „mehr“, so können wir feststellen, dass die modernen Prinzipien des Finanzhandels diesen Prinzipien tatsächlich sehr ähneln.
„Die Ziellosigkeit der Gewinnsteigerung trägt Elemente von Gier“
Natürlich sind Menschen immer schon auch gierig gewesen, haben also eine unbändige Lust nach mehr gehabt. Allerdings ist der entscheidende Punkt, ob so ein starkes Verlangen am Ende gestillt werden kann, man also das, wonach man verlangt hat, auch tatsächlich in Händen halten kann. Dann hat solch ein starkes Verlangen eine gewisse Schließung und findet seine Erfüllung darin, dass man eines bestimmten Objektes habhaft wird. Das ist aber in der modernen Finanzindustrie, die ja mittlerweile die Leitbranche der modernen Wirtschaft geworden ist, durchaus nicht der Fall. Dort dienen Investments weniger dazu, konkrete Investitionen in wirtschaftliche Güter, Anlagen oder Technologien zu tätigen oder Unternehmen zu finanzieren, damit diese wiederum investieren können. Die Investments der Finanzindustrie zielen vielmehr im Wesentlichen darauf ab, Geld als Selbstzweck zu vermehren, unabhängig von nützlichen Wirkungen, die dieses Geld für die Realwirtschaft haben könnte. Hier gibt es einen wechselseitigen Bezug von Gier als einer Erwartungslust und einer Finanzökonomie, die ständig mit den nächsten Gewinnerwartungen handelt und darauf angewiesen ist, dass die hohen Gewinne von heute durch noch höhere Gewinne morgen gesteigert werden. Diese Ziellosigkeit der Gewinnsteigerung als Selbstzweck trägt tatsächlich Elemente von Gier. Das liegt aber nicht in den persönlichen Emotionen von Akteuren begründet, die etwa schon als gierige Menschen in den Finanzsektor kommen – und selbst wenn es so ist, ist das nicht das entscheidende Moment – sondern an bestimmten ökonomischen Handlungsbedingungen, die erfüllt werden müssen, wenn man im Finanzwesen bestehen will: Wenn ich eine Abteilung des Investmenthandels in einer Bank leite und im Wettbewerb mit der Konkurrenz anderer Finanzinstitute bestehen will, muss ich mich diesem Konkurrenzkampf um die endlose Steigerung von Gewinnen tatsächlich aussetzen, sonst werde ich mich da nicht halten. Diese Systemanforderungen der modernen Finanzindustrie weisen gewissermaßen auf die affektive Struktur von Finanzakteuren selbst zurück. Geschäftsmodelle und Emotionen stehen hier in einem Wechselverhältnis. Das heißt, die Gier im Finanzsektor ist eine Systemeigenschaft. Sie entsteht nicht aus dem schlechten Charakter von Bankern.
Lässt sich das auf die Realwirtschaft übertragen? Die Wachstumslogik betrifft ja auch andere Sparten.
Das ist richtig, aber die Wachstumsgrößen, mit denen die Realwirtschaft heute zu tun hat, sind ja sehr mäßig und in keiner Weise mit dem zu vergleichen, was vor 2008 auf den Finanzmärkten los war. Da ging es um die Steigerung von Gewinnen in einer Höhe, wie es in der Realwirtschaft völlig unbekannt ist. Bestimmte Investments konnten sich vor der Krise von 2008 in kürzester Zeit um 40 Prozent in ihrem Wert steigern. Das waren Gewinnmargen, wie man sie bis dahin höchstens aus dem internationalen Drogenhandel kannte. Die Wachstumsprozente, die in der Realwirtschaft erzeugt werden, sind damit nicht zu vergleichen. Zurzeit haben wir ja auch eher ein Nullwachstum oder sogar einen Rückgang.
„Gesellschaften stehen vor wichtigeren Aufgaben als den Vermögenden höhere Renditen zu ermöglichen“
Welche Maßnahmen können die „Gier“ einhegen oder die Allgemeinheit an Profiten beteiligen?
Ich halte es für eine Fehlentwicklung der Finanzindustrie, dass sie sich hauptsächlich auf die spekulativen Erträge auf den Finanzmärkten selbst konzentriert hat und ihren wesentlichen Zweck nicht mehr in der Unternehmensfinanzierung, in der Finanzierung öffentlicher Infrastruktur, kommunaler Güter und vergleichbarer Dinge betrachtet. Natürlich ist die Verfügung von Kapital eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Prozesse, insofern können Banken eine nützliche Rolle erfüllen. Heute haben wir es aber viel weniger mit Banken zu tun, die sich als finanzielle Dienstleister der Realwirtschaft und der Gesellschaft im Ganzen verstehen, sondern eher mit Geldfirmen, die darauf ausgelegt sind, auf den Finanzmärkten möglichst hohe spekulative Gewinne aus Geldgeschäften selbst zu erzielen. Und das schürt die Gier, weil es selbst ein gieriges wirtschaftliches Geschäftsmodell ist. Es wäre sinnvoll, das Finanzwesen wieder auf die sinnvollen und nützlichen Aktivitäten zurückzuführen, die wir gerade in Zeiten der Klimakrise dringend benötigen. Hier könnten die Finanzinstitute eine wichtige Aufgabe übernehmen: nämlich das ja übermäßig in der Welt vorhandene Kapital einzusammeln, um es in den nächsten Jahrzehnten in die nötigen Maßnahmen des Klimaschutzes zu investieren. Das wäre tatsächlich ein allgemeiner Nutzen, der aus finanzökonomischen Geschäften entstehen kann. Gerade in der heutigen Zeit disqualifiziert sich eine Reichtumssteigerung allein um ihrer selbst willen, weil wir als Gesellschaften vor viel wichtigeren Aufgaben stehen als den sowieso schon Vermögenden noch höhere Renditen zu ermöglichen. Ganz im Gegenteil brauchen wir einen Gutteil dieses überschüssigen Kapitals, das massenhaft auf den globalen Finanzmärkten zirkuliert, um eine existenzielle Krisensituation wie den Klimawandel tatsächlich noch abwenden oder zumindest abschwächen zu können. Angesichts solcher Probleme stellt sich auch der Satz von Gordon Gekko [Protagonist in „Wall Street“; d. Red.] als eine Aussage dar, die völlig aus der Zeit gefallen ist und geradezu lächerlich wirkt.
„Wir können darauf vertrauen, dass Menschen den Antrieb haben, ihre eigenen Lebensumstände zu verbessern“
Wie könnte das umgesetzt werden?
Durch ordnungspolitische Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, wie sie ja auch immer schon stattgefunden haben, und die vor allem dann notwendig werden, wenn die „freie Wirtschaft“ den Karren mal wieder in den Dreck gefahren hat, und die Öffentlichkeit für die Verluste aufkommen muss. Dann wird rasch nach dem Staat gerufen, der das alles wieder in Ordnung bringen soll. Staatliche Regulierungen sollten wir aber besser dazu nutzen, um wirtschaftliche Aktivitäten in einem viel stärkerem Maße an das Allgemeinwohl und die Sicherung unserer planetaren Lebensgrundlagen zu binden. Angesichts solcher Aufgaben relativiert sich das rein individualistische Recht, das der Liberalismus stets vertreten hat, seine privaten Gewinne größtmöglich zu steigern. Eine stärkere ordnungspolitische Regulierung brauchen wir eben nicht nur dann, wenn uns die Finanzindustrie mal wieder in eine ökonomische Krise geritten hat, sondern um unsere Zukunft zu sichern – sowohl als Gesellschaften, die einen gewissen sozialen Zusammenhalt brauchen, als auch als Bewohner eines Planeten, der durch hemmungsloses Reichtumsstreben bis aufs Äußerste ökologisch strapaziert worden ist.
Profitstreben gilt als Innovationsmotor. Welche Impulse außer der Gier können für den nötigen Antrieb sorgen?
Natürlich gibt es den Drang nach Verbesserung. Der ist bei allen Menschen vorhanden, und gegen ihn ist nichts einzuwenden. Allerdings haben wir es bei der Gier mit etwas anderem zu tun. Der Drang nach Verbesserung möchte einen besseren Zustand herbeiführen – durch eine technische Innovation, durch die Erfindung neuer Produkte, durch nützliche Einrichtungen und anderes mehr. Gier aber ist durch verbesserte Zustände gar nicht zu befriedigen, weil Gier in sich ja unersättlich ist. Von daher brauchen wir keine Gier, sondern können darauf vertrauen, dass Menschen den Antrieb haben, ihre eigenen Lebensumstände zu verbessern. Dass das auch ein wirtschaftlicher Antrieb sein kann, ist völlig unbestritten. Doch wenn die großen Erdölkonzerne zum Beispiel gegenwärtig gerade wieder ungeheure Summen in die Förderung von Öl, Kohle und Gas investieren, dann zeigt das, dass solche ökonomischen Antriebe nicht auf die Verbesserung von Zuständen abstellen, sondern darauf, möglichst schnell möglichst hohe Gewinne zu erzielen. Ob das gesellschaftlich oder auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Gier als Selbstzweck der reinen Gewinnsteigerung kann also geradezu hinderlich sein, um über Innovationen eine Verbesserung gesellschaftlicher Zustände zu erreichen.
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