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Thomas Seibert
Foto: Alte Schmiede Wien

„Kapitalismus ist auch eine Befreiungsmaschinerie“

26. April 2018

Philosoph und Aktivist Thomas Seibert über Marxismus und eine vereinigte Linke

engels: Herr Seibert, was macht Marx so einmalig?
Thomas Seibert: Was ihn einzigartig macht, ist, dass er eine Verbindung geschaffen hat zwischen erstens der Philosophie, zweitens einer Form der historisch kritischen Theorie von Gesellschaft und drittens der Verwicklung beider in den tatsächlichen sozialen Kämpfen seiner Zeit. Das ist ihm tatsächlich gelungen. Jetzt nicht Marx als Person, aber er ist derjenige, der dem Ganzen auch den Namen gegeben hat. Gleichzeitig macht das auch die fundamentale Krise dieses Projekts aus, weil diese Einheit – Philosophie, kritische Theorie und soziale Kämpfe –, die es vom 19. bis 21. Jahrhundert gegeben hat, zerbrochen ist. Das ist die Krise des Marxismus auf den Punkt gebracht, aber auch unsere Krise.

Wie ist es derzeit um Marx bestellt?
Im Moment haben wir so eine Art Marxismus-Revival, so ein kleines. Das ist auch sehr gut verständlich. Man nimmt es nur dummerweise nicht zur Kenntnis. In den 80er Jahren beginnend hat diese Transformation von Kapitalismus eingesetzt, die wir neoliberal oder postfordistisch nennen. Sie hat lange Zeit ein Versprechen mit sich getragen, das an den Mai ’68 angeknüpft hat. Im Wesentlichen eins, nämlich das zentrale Begehren nach Befreiung von den Zwängen der fordistisch-kapitalistischen Gesellschaft.

Was meinen Sie damit?
Ich komme aus der Jugendbewegung und der Jobberbewegung der 70er Jahre. Der zentrale Punkt war: Mit uns bitte kein Normalarbeitsverhältnis. Wir werden nicht das machen, was unsere Eltern gemacht haben: Von montags bis freitags. Das ganze Jahr. Mit Urlaub. Dann kommt das erste Kind, das zweite Kind. Das erste Auto, das zweite Auto. Für uns war klar, das wollen wir auf gar keinen Fall. In gewisser Weise hat der Kapitalismus gesagt: „Gar kein Problem, geben wir euch.“ Der Kern der postfordistisch-neoliberalen Veränderungen ist die Abschaffung der Normalarbeitsverhältnisse samt der sozialen Absicherungen, die die Arbeiterbewegung über 100 Jahre erkämpft hat. Was unterschätzt wird von vielen Linken, und deswegen sind die Revolten gegen das Bestehende auch immer noch so schwach, ist, inwieweit dieses Versprechen doch getragen wird und wir über ein Ausmaß individueller Entfaltungsmöglichkeiten verfügen. Für jemanden wie mich, der in den 60ern aufgewachsen ist, ist das immer noch unfassbar. Und das geht Millionen anderen auch so. Gleichzeitig ist es natürlich so: Die Verunsicherung des gesamten Lebens und auch die Entgrenzung der Arbeit auf das ganze Leben haben zugenommen. Dazu kommt neben objektiver Verarmung auch relative Verarmung; man ist selbst vielleicht gar nicht arm, aber man hat vor Augen wie reich andere Leute sind.

Die Schattenseiten des Kapitalismus?
Der Kapitalismus ist ambivalent: Er scheint die Gesellschaftsordnung der Geschichte zu sein mit einem unglaublichen Zerstörungspotenzial, stärker als jede andere Gesellschaftsformation, die das auch ausspielt, jeden Tag. Andererseits bringt er Befreiungen hervor, systematisch, wie das auch keine Gesellschaftsformation jemals vorher gekonnt hat.

Der Begriff des Kommunismus ist ebenfalls zwiespältig.
Bis in die 70er Jahre hat man das Wort Kommunismus nicht mehr aussprechen dürfen, weil man damit der Feind war. In den 90ern hingegen, weil man einfach als Idiot dastand. Als jemand, der überhaupt nicht verstanden hat, wo’s lang geht. Der Begriff musste erst mal wieder salonfähig gemacht werden. Tatsächlich hat es diese Arbeit auch gegeben. Dieser Begriff ist nicht etwa von den Soziologen, Politologen oder Journalisten wieder ins Spiel gebracht worden, sondern ausnahmslos von Philosophen. Sie alle haben die Frage gestellt: Warum wird nicht über Kommunismus geredet? Ohne diesen Begriff ließe sich politisch gar nicht denken.

Was wäre eine moderne Linke angelehnt an Marx?
Sie fragen mich nach einem Neustart des marxistisch-sozialistischen Projekts? Wenn man die Leute dazu bringen will, die Zustimmung zum Bestehenden aufzukündigen, dann muss man das auf der Höhe der erreichten Befreiung tun und darf nicht hinter sie zurückfallen. Solange die Linke so auftritt, als sei sie eine politische Kraft, die uns zurückführen will, sei es in den fordistischen Sozialstaat der 50er bis 70er Jahre oder noch schlimmer in die real existierenden Sozialismen, die es gegeben hat, kann das überhaupt nicht gelingen. Das wird erst möglich, wenn man sich eingesteht, dass Kapitalismus auch eine Befreiungsmaschinerie ist, vorangetrieben von den sozialen Kämpfen und von seiner Fähigkeit, diese zu absorbieren. Der Kapitalismus, den wir vor Augen haben, hat zwei Sachen absorbiert: ein ganzes Jahrhundert real existierende Sozialismen und den letzten großen emanzipatorischen Aufbruch, nämlich 68. Wenn wir jetzt sozusagen das Spiel neu aufmachen wollen, dann müssen wir dort ansetzen.

Lassen sich linke Interessen unter einen Hut bringen?
Früher ging es immer darum, die eine Partei wieder herzustellen. Es hat diese historische große Spaltung gegeben zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten nach dem 1. Weltkrieg. Im Zuge dessen hieß im 20. Jahrhundert die Schaffung einer wieder vereinigten Linken fortan die Schaffung einer vereinten Partei. Das ist so nie gelungen, aus guten Gründen. Ich glaube, diesen Job sind wir los. Zusammenarbeit ist die Voraussetzung, die man unbedingt wahren muss. Vereinigte Linke heißt heute weniger, Spaltungen zu überwinden in ideologischer Hinsicht, als vielmehr zu verstehen, dass man unterschiedlich arbeitet. Dafür muss es ein gutes Verständnis geben. Dann finden reformerische wie radikalere Ansätze gegenseitiges Verständnis und man kann fragen, was man im Zusammenspiel verschiedener Formen erreichen kann.

Wie können sich Linke stärker einbringen?
Auf Deutschland bezogen: Wir haben nominell drei linke Parteien – die Sozialdemokratie, die Grünen und die Linkspartei. Wir haben seit weit über 10 Jahren schon Versuche und auch die reelle Möglichkeit gehabt, dass es eine Koalition hätte geben können. Obwohl ich definitiv sagen würde: Mir würde das nie reichen, halte ich eine solche Koalition a) für möglich und b) für nötig und ich finde, dass man daran weiter arbeiten muss. Wie, das werden die nächsten Jahre zeigen, aber die Grenze ist 2020/21. Bis dahin muss es stehen. In welcher inneren Anordnung, das ist eine der Hauptaufgaben der nächsten Jahre.

Warum wäre das so wichtig?
Ich war ja die längste Zeit meines politischen Lebens überhaupt nicht parteipolitisch interessiert. Ich komme aus den Bewegungen. Heute haben wir bald 40 Jahre des Regierens unter der Maßgabe „There is no alternative“ (TINA). Das bedeutet, dass alles, was geändert werden kann, im Rahmen des Bestehenden bleiben muss – der Rahmen selbst steht nicht zur Verhandlung. Das ist einerseits eine bloße Ideologie, aber viel schlimmer noch: es ist auch Erfahrung geworden. Bei all ihrer Beschränktheit würde eine progressive Regierung im stärksten Land Europas genau das aufbrechen.

Schauen wir nach Europa: Wie steht es um die griechische Partei Syriza?
Syriza ist ein Projekt, zu dem sich Linke der unterschiedlichsten Herkunft zusammen gefunden haben. Darunter auch einige, die nie hätten Parteipolitik machen wollen, sondern ausschließlich Bewegungspolitik. Das ist die Stärke, die ich meine, die wir jetzt haben. Das Verständnis dafür, zusammenarbeiten zu müssen, ist richtig tief und gesichert. Syriza hat gewusst, dass die Krise in Griechenland alleine gar nicht lösbar ist. Das Spiel war außerordentlich klug. Es bestand darin, die griechische Krise zu einer europäischen zu machen und auf EU-Ebene die Notwendigkeit einer politischen Lösung zu verdeutlichen, mit der auch die Griechen hätten leben können. Das war der Einsatz von Syriza und eine Zeit lang sah es auch gar nicht so schlecht aus. Es hat trotzdem nicht gereicht und zwar wegen der Rigorosität der deutschen Politik und des Niederschlagens dieses griechischen Aufruhrs. Es ging ihnen nicht um das Ausplündern der Restbestände der Vermögen in Griechenland. Mit Syriza wäre eine politische Krise in der ganzen EU aufgebrochen und genau diese Gefahr hat man erkannt. Deswegen auch die Härte bei der Niederschlagung.

Was hat es mit dem Rechtsruck in Europa auf sich?
Seit 40 Jahren ist es so, dass es keine Verschiebung mehr nach links gegeben hat, sondern eigentlich sukzessive Verschiebungen nach rechts. Im Moment haben wir einen richtig rasanten Schub. Deswegen bin ich seit einigen Jahren ganz entschieden für eine Mitte-Linke-Reformregierung und war im zurückliegenden Wahlkampf für eine Rot-Grün-Rote Regierung. Denn wenn man sich anguckt, was im Moment in Europa geschieht: Ein Land nach dem anderen kippt weit nach rechts und wir haben halbfaschistische Regierungen zum Beispiel in Polen, Ungarn und tendenziell Österreich. In Frankreich hätten wir eine halbfaschistische Regierung haben können. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben wir eine rechtsradikale Partei mit über 10 Prozent im Parlament. Wenn man sich jetzt vorstellt, es hätte nach den letzten Bundestagswahlen eine Mitte-Links Regierung in Deutschland gegeben, die an einigen, wenigen Stellen spürbar etwas geändert hätte, dann hätte das die Dynamik nach rechts stoppen können.


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