Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) war der Überzeugung, dass das, was als Wahrheit gilt, im Laufe der Jahrhunderte weder absolut, stabil noch eindeutig war. Vor der Aufklärung war Wahrheit demnach eher eine Frage der Offenbarung — man denke an das Orakel von Delphi in der griechischen Antike. Offenbarte Wahrheiten manifestierten sich an einem bestimmten Ort durch eine bestimmte Person. Im antiken Griechenland besaß die Pythia in Delphi die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Diese Fähigkeit wurde nicht in Frage gestellt, von niemandem. Mit der Aufklärung veränderte sich der Begriff der Wahrheit. Wahrheit ist seither überall und für alle gleichermaßen manifestiert. Sie kann von jedem Menschen hinterfragt werden, ist aber zugleich an Fakten gebunden – und derart prägend für unser Verständnis wissenschaftlichen und technischen Fortschritts.
Versprechen der perfekten Welt
Heute steckt dieser Wahrheitsbegriff jedoch in einer tiefen Krise. Das hat auch damit zu tun, dass er Grundlage des „industriellen Fortschritts“ ist, der ökologische und soziale Katastrophen verursacht und verschärft. Das Vertrauen in das Versprechen der modernen Wissenschaft, eine „perfekte Welt“ zu schaffen, wie es sich im 19. Jahrhundert beispielsweise die Denkschule des Positivismus vorstellte, ist nachhaltig zerstört. Die entstandene „Vertrauenslücke“ wird in jüngster Zeit in den sogenannten sozialen Medien mit Verschwörungstheorien und Fake News gefüllt. Seit Donald Trump ist das gar gewohnheitsmäßige Praxis geworden. Trump hat in seiner vierjährigen Amtszeit als US-Präsident mehr als 30.500 Falschinformationen und Lügen verbreitet – also knapp 29 (!) pro Tag, wie die Washington Post in einem Faktencheck darlegte.
Die Interpretation der Wirklichkeit durch die vier Hauptpfeiler der herrschenden sozialen Rationalität – gemeint sind Massenmedien, politische Eliten, kulturelle Akteure und akademische Analytiker – stößt bei immer mehr Bürgerinnen und Bürgern auf Misstrauen. Alle Versuche der klassischen Massenmedien Print, Radio und TV, allgemeines Vertrauen in Wahrheiten wiederherzustellen, scheinen an diesem Misstrauen zu scheitern. In der Welt der sozialen Netzwerke sind Expertenmeinungen und wissenschaftliche Beweise radikal entwertet worden. Je wissenschaftlicher eine Erklärung ist, desto fragwürdiger erscheint sie demnach.
Unfähigkeit der Herrschenden
Nicht mehr die Frage: „Welche wissenschaftlichen Beweise gibt es dafür, dass etwas wahr ist?“, sondern: „Warum wird so beharrlich versucht, mich zu überzeugen, dass dies wahr ist?“, ist in den sozialen Netzwerken zur entscheidenden Frage geworden. Es ist die Verkehrung des Diktums von Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels, der meinte, eine tausendmal wiederholte Lüge, werde zur Wahrheit. Verkehrung deshalb, weil in Verschwörungsnetzwerken gilt: Eine tausendmal wiederholte Wahrheit ist (wahrscheinlich) eine Lüge. Dieser um 180-Grad gewendete Goebbels ist Grundlage für die Narrative der extremen Rechten von heute, mit denen sie bei den Angehörigen der bereits sozial und wirtschaftlich verarmten, besonders aber der vom Abstieg bedrohten Mittelschichten weltweit punktet. Allerdings liegt in dieser Lüge ein wahrer Kern. So, wie die Herrschenden Wissenschaft und Technologie nutzten, erweisen sie sich beständig unfähig, Lösungen für einige der akutesten Probleme vorzulegen, mit denen viele Angehörige der von Abstieg bedrohten Mittelschichten konfrontiert sind: mies bezahlte Drecksarbeit, Zwangsräumungen, Prekariat und Elend.
DIGITAL UNVERBUNDEN - Aktiv im Thema
dji.de | Das staatlich finanzierte Deutsche Jugendinstitut untersucht „die Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und Familien sowie die damit zusammenhängenden sozialstaatlichen Angebote und Maßnahmen“.
iat.eu | Das in Gelsenkirchen ansässige Institut Arbeit und Technik forscht zu Arbeit und Wirtschaft, um einen Beitrag zu leisten für „nachhaltigen Wohlstand und Lebensqualität“.
igza.org | Das Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit forscht zu Technik, Kommunikation sowie wirtschaftlicher und politischer Macht, um die Ergebnisse „für die Gestaltung zukünftiger Arbeitswelten nutzbar zu machen“.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bloß kein Erbarmen
Intro – Digital unverbunden
Champagner vom Lieferdienst
Teil 1: Leitartikel – Vom Unsinn der Debatte über die junge Generation
„Junge Menschen sind gesucht und begehrt“
Teil 1: Interview – Arbeitsmarktforscher Ulf Rinne über neue Herausforderungen bei der Berufswahl
Wer bin ich?
Teil 1: Lokale Initiativen – Johannes Wilbert begleitet Menschen bei ihrer Suche nach dem passenden Beruf
„Das eigene Bauchgefühl hat noch nie gereicht“
Teil 2: Interview – Medienwissenschaftler Michael Seemann über Täuschungen durch KI
Wissen über KI fördern
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Kölner Wissenschaftsrunde
Die Messenger-Falle
Teil 3: Leitartikel – Zwischen asynchronem Chat und sozialem Druck
„Häufig eine völlig falsche Vorstellung des ‚echten Lebens‘“
Teil 3: Interview – Psychologin Anna Schneider über Freundschaft in Zeiten der Digitalisierung
Dein Freund, das Handy
Teil 3: Lokale Initiativen – Forschung zur Smartphone-Nutzung in Beziehungen an der Universität Witten/Herdecke
Digitalisierung für alle
Technischer Wandel und Inklusion – Europa-Vorbild: Dänemark
Gemeinsam einsam
Die Kunst, nebeneinander zu sitzen und Welten entfernt zu sein – Glosse
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 1: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 2: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 3: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Glücklich erinnert
Teil 1: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 3: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Das Spiel mit der Metapher
Teil 1: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 3: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 1: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Stimmen des Untergangs
Teil 1: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?