engels: Frau Spannagel, „wenn du richtig reinklotzt, dann wirste auch was“ – stimmt das oder ist die Leistungsgesellschaft ein Mythos?
Dorothee Spannagel: Ich würde sagen, dass dieser Satz nicht stimmt. Ob er in der ganzen Breite, wenn wir an die bundesrepublikanische Nachkriegszeit denken, jemals gestimmt hat, schon das würde ich bezweifeln. Für die letzten Jahrzehnte kann ich sagen: definitiv nein.
„Sie kommen einfach nicht raus aus dem Hamsterrad“
Woran liegt es, dass Leistung allein nicht ausreicht?
Die Gründe dafür sind sehr stark strukturell und hängen mit dem Funktionieren unserer Gesellschaft, unserer Demokratie, aber auch unserer Politik zusammen. Das heißt, es gibt tatsächlich Bevölkerungsgruppen, die merken, sie können sich abstrampeln, soviel sie wollen – sie kommen einfach nicht raus aus dem Hamsterrad. Diese Haushalte müssen mit relativ wenig Geld auskommen und sind von Armut betroffen. Auch ein Grund ist, wie sie auf dem Arbeitsmarkt ankommen. Mitunter haben sie eine relativ geringe Bildung. Wenn sie erwerbstätig sind, dann häufig in Berufen, die schlecht entlohnt werden oder prekäre Arbeitsbedingungen haben. Vielleicht sind sie auch nur befristetbeschäftigt, in Teilzeit oder geringfügig. Für sie wäre ein Aufstieg über eine gut entlohnte, sichere und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung möglich, die sie aber nicht bekommen können, weil ihnen die entsprechenden Qualifikationen dafür fehlen. Dazu kommt, dass diese Menschen auch politisch wenig Gehör finden. Es ist erwiesen, dass Entscheidungen der Politik, die seit den 80er-Jahren umgesetzt werden, systematisch die Anliegen der unteren Bevölkerungsgruppen nicht berücksichtigen.
„Kostensteigerungen merken besonders Haushalte, die ihr Geld für Konsum ausgeben müssen“
Steigende Mieten und Lebensmittelpreise treffen alle. Doch was bedeutet es für Menschen, die weniger im Portemonnaie haben?
Schon das stimmt ja eigentlich nicht mehr: Steigende Mieten kommen nicht bei allen an, bei Hauseigentümern schon mal nicht. Die Kostensteigerungen der Inflation merken alle, doch besonders die Haushalte, die ihr Geld im Wesentlichen für Konsum ausgeben müssen. Denn in diesen Fällen kann man nicht sagen: Dann esse ich halt nichts mehr – das klappt nicht.
Was bedeutet das für Zukunftsplanung oder Vermögensaufbau?
Für diese Bevölkerungsgruppen ist Vermögensaufbau kein relevantes Thema. Hier stellen sich vielleicht eher Fragen, wie man z.B. Schulden abbaut. Das allein wird für diese Menschen schon immer schwieriger, genauso wie einen Notgroschen auf dem Konto zu haben. Da sie teilweise gar nicht mehr wissen, wie sie überhaupt über die Runden kommen sollen, ist der Begriff der Zukunftsplanung für manche vielleicht schon ein zu großes Wort.
„Sie sind sehr stark von sozialer Ausgrenzung betroffen“
Was bedeutet das für die eigene Gesundheit?
Es kann immer mal sein, dass man in kurzen Phasen von Armut betroffen ist, z.B. weil man zwischen zwei Jobs steht oder kurzfristig arbeitslos ist. Diese Menschen trenne ich jetzt ganz bewusst von denen, die über Jahre hinweg in Armut leben. Menschen, die dauerhaft in Armut sind, sind sehr stark von sozialer Ausgrenzung betroffen. Sie haben nicht nur wenig Geld, sondern können an der Gesellschaft nicht ökonomisch teilhaben, sich etwas leisten. Die Folgen sind auch gesundheitlich. Wer dauerhaft von Armut betroffen ist, ist häufiger und schwerer krank und leidet stärker und häufiger an chronischen Krankheiten. Und letztendlich führt dauerhafte, verfestigte Armut auch zu einem früheren Tod.
Weil arme Menschen höheren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind?
Es ist ein ganzes Bündel an Faktoren. Das fängt bei beruflichen Kontexten an und hört bei Wohnorten auf, die oft umwelt- und lärmbelasteter sind. Da die Wohnungen auch kleiner sind, sind arme Menschen einer größeren Belastung durch mehr Menschen ausgesetzt. Dazu kommen Fragen wie: Kann ich morgen meine Miete noch bezahlen? Wie geht es meinen Kindern? Was kann ich mir an guter Ernährung leisten? Wie leicht kann ich mir medizinische oder psychologische Hilfe suchen?
„Eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration steht jetzt mehr im Vordergrund“
Sind Menschen automatisch dazu gezwungen, auch schlechte Jobs anzunehmen, wenn sie in den Arbeitsmarkt gedrückt werden?
Das hat sich tatsächlich ein bisschen geändert. Unter Hartz-IV hatten wir noch den Vermittlungsvorrang. Das heißt, jede Stelle, die einem angeboten wurde, wenn man in Hartz-IV-Bezug war, musste angenommen werden, unabhängig davon, ob eine Weiterqualifikation sinnvoll wäre, wie diese Stelle entlohnt war oder die Arbeitsbedingungen darin waren. Es war eine Stelle, die einem angeboten wurde und die hatte man gefälligst anzunehmen. Mit dem Bürgergeld hat sich das geändert: Der Vermittlungsvorrang wurde abgeschafft und eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration steht jetzt mehr im Vordergrund – zumindest auf dem Papier.
Was heißt das?
Früher hatten wir sogenannte Drehtüreffekte: Menschen mussten eine Stelle annehmen, weil ihnen sonst Sanktionen drohten. Sobald die Stelle beendet war, sind sie, nach kurzer Zeit auf dem Arbeitsmarkt, wieder rausgefallen und kamen zurück in den ALG II-Bezug. Mit dem Bürgergeld ist jetzt die Hoffnung verknüpft, dass man Menschen besser weiter qualifizieren kann. Weiterbildungen werden jetzt stärker gefördert als das noch mit ALG II möglich war. Konkret bedeutet das: Das Jobcenter kann nun auch einer Weiterbildung Vorrang geben vor einer vielleicht nur kurzfristigen Erwerbstätigkeit. Die Situation ist dafür eigentlich ideal. Aktuell haben wir Arbeitskräftemangel: Es werden Leute in verschiedensten Berufen händeringend gesucht. Ob es sich in der Praxis bewährt, wird man sehen müssen. Das Gesetz findet ja erst ein halbes Jahr Anwendung. Dazu lässt sich also noch wenig sagen.
„Leistungen komplett zu streichen ist jetzt nicht mehr möglich“
Sanktionsmöglichkeiten wurden mit dem Bürgergeld wenig entschärft ...
Jain. Während der Corona-Pandemie wurde ein Sanktionsmoratorium eingeführt, sprich für eine gewisse Zeit wurden die Sanktionen komplett ausgesetzt. Dieses Moratorium endete mit der Einführung des Bürgergeldes, aber die Sanktionsoptionen wurden auch entschärft. Leistungen komplett zu streichen ist jetzt nicht mehr möglich. Mit ALG II konnte ihnen temporär alles gestrichen werden und es gab nur noch Lebensmittelmarken. Auch schärfere Sanktionen für unter 25jährige gibt es nicht mehr, weil man gemerkt hat, dass sie abschreckend wirken und gegenteilige Folgen haben. Generell wurden die Sanktionshöhen deutlich leichter gestaffelt. Es gibt sie also weiterhin. Sie sollen wiederum nicht mehr so hart sein und nicht mehr so schnell greifen. Die Tatsache, Menschen die Leistungen komplett zu streichen und ihnen statt dessen Lebensmittelmarken zu geben, fand ich immer unmöglich. Dass so etwas in einem Land wie Deutschland überhaupt möglich war – kaum zu glauben.
„Wir können von einer hohen Dunkelziffer ausgehen“
Wie steht es um die Working Poor und Aufstocker?
Working Poor meint Menschen, die erwerbstätig sind, aber mit ihrem Haushaltseinkommen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze liegen, also unter 60 Prozent eines mittleren Einkommens. Aufstocker wiederum sind erwerbstätige Leistungsbezieher. Sie beziehen Bürgergeld und sind erwerbstätig. Zu Aufstockern hat man gut dokumentierte Zahlen, da all jene, die Leistungen nach Bürgergeld beziehen und erwerbstätig sind, bei der Bundesanstalt für Arbeit gemeldet sind. Doch auch hier können wir von einer relativ hohen Dunkelziffer ausgehen, entweder, weil Leistungsberechtigte nicht wissen, dass sie Anspruch darauf haben oder weil es für sie mit Scham besetzt ist. Viele Leute denken, „wenn ich arbeite, habe ich gar keinen Anspruch auf Bürgergeld, denn das kriegen nur Arbeitslose“. Zuletzt sind die Zahlen von Aufstockern runtergegangen. Es hängt aber auch an mehreren Faktoren. Wenn die Leistungen im Bürgergeld z.B. steigen, wie zum 1. Januar um 50 Euro, gibt es auch mehr Anspruchsberechtigte.
„Früh bei Kindern ansetzen“
Welche Wege führen aus Armut und Ungerechtigkeit?
Seit den 80er Jahren sehen wir, dass sich sowohl Einkommensverteilung als auch Armut zunehmend verfestigen. Armut wird so zu einem dauerhaften Zustand. Es gibt viele Ansatzpunkte, um diese Entwicklung langfristig zu bekämpfen. Mit der wichtigste ist Bildung. Es müsste schon ganz früh bei Kindern ansetzen und ihnen möglichst gleiche Startchancen im Bildungssystem verschafft werden. Gerade, wenn keine oder nur wenig monetäre oder auch sprachliche Ressourcen innerhalb der Familie vorhanden sind. Ein weiterer Ansatzpunkt wäre die berufliche Weiterqualifikation. Dazu muss dieses Thema politische Priorität bekommen und entsprechend Geld in die Hand genommen werden. Kurzfristig würde eine Erhöhung der Leistungen wirken, z.B. bei Menschen, die Bürgergeld beziehen. Eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration würde bedeuten: höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, Vollzeit, wo gewünscht, sozialversicherungspflichtig abgesichert und das idealerweise dauerhaft und nicht prekär und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Frauen, die alleinerziehend sind, sollen die Möglichkeit haben, auch in Vollzeit zu arbeiten, um entsprechend zu verdienen.
GELD ODER LEBEN - Aktiv im Thema
leben-in-deutschland.de | Die auch als Sozio-ökonomisches Panel (SOEP) bekannte Langzeitstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin erhebt Daten u.a. zur Entwicklung der Armut.
arbeiterkind.de | Die gemeinnützige GmbH Arbeiterkind ermutigt bundesweit „Schülerinnen und Schüler aus Familien ohne Hochschulerfahrung dazu, als Erste in ihrer Familie zu studieren“.
youtube.com/watch?v=Cyb8xvU9txU | Aufzeichung der Pressekonferenz zur Initiative Bildungswende Jetzt!, der sich über 90 Einrichtungen angeschlossen haben. Die Initiative fordert ein zeitgemäßes, gerechtes und vollfinanziertes Bildungssystem. Ein bundesweiter „Bildungsprotesttag“ ist am 23. September vorgesehen.
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