engels: Herr Werner, was genau gehört zur Naturheilkunde?
Marc Werner: Die klassische Naturheilkunde nutzt fünf Therapiesäulen: Wasserheilkunde, Pflanzenheilkunde, Ernährung, Bewegung und die Ordnungstherapie, in der besonders das Verhalten in Bezug auf Gesundheit und Krankheit im Mittelpunkt steht. Häufig werden „regulierende Verfahren“ hinzugezogen. Hierzu zählen u. a. die Akupunktur, die Osteopathie oder die Neuraltherapie.
Welche Ansätze und Denkweisen stecken hinter diesen Verfahren?
Die selbst-regulativen Möglichkeiten des Körpers werden ganzheitlich angesprochen. Ganzheitlich bedeutet, dass wir dies von verschiedenen Seiten her tun. So wie nach einem Krafttraining ein Muskel zunächst ermüdet – und dann im Verlauf an Stärke gewinnt –, fordern viele naturheilkundliche Reize zunächst eine Anpassung an den Therapie-Reiz. Nach einem therapeutischen Fasten stellt sich oft mehr Energie ein, nach häufigen Kaltwasserreizen verbessert sich das Immunsystem. An den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) behandeln wir viele Schmerzpatienten, denen mit den konventionellen Mitteln – oft besonders mit nebenwirkungsreichen Medikamenten – nicht geholfen werden konnte. Durch eine ganzheitliche Therapie, die das Bewegungsverhalten, den Krankheitsumgang und die Ernährung sowie naturheilkundliche Behandlungen zur Linderung der Beschwerden beinhaltet, können wir häufig das Leid lindern, oft sogar Medikamente gleichzeitig reduzieren.
„Gesundheit ist nichts, was man erzwingen könnte“
Sie sagten, dass Sie oftmals Patienten haben, die von der Schulmedizin enttäuscht waren und die Naturheilkunde nun als letzten Ausweg sehen. Wie gehen Sie damit um, wenn diese auch eher den schnellen, medikamentösen Weg gehen wollen?
Wenn sich Menschen an uns wenden, gilt es, in Gesprächen gemeinsam einen Weg zu finden. Wenn ein schneller Weg möglich ist, wird dieser auch naturheilkundlich umgesetzt. Oft ist bei den langjährigen Beschwerdeverläufen, die wir stationär an den KEM sehen, jedoch ein umfassender Behandlungsplan notwendig. Neben Behandlungen, die die Beschwerden lindern sollen, wird nach den individuellen Bedürfnissen des Patienten ein Therapieplan entwickelt, der über den stationären Aufenthalt hinaus helfen soll und anwendbar ist. In diesem Plan fließen dann unsere Erfahrung und die Bedürfnisse des Patienten zusammen. Gesundheit ist nichts, was man erzwingen könnte, wenn man es nur fest genug versucht. Wir gestalten ein Programm und einen Plan für die Zukunft, der gesunde Impulse beinhaltet. Damit wird die Möglichkeit für die weitere Genesung gegeben.
Gibt es Situationen, in denen Sie die Naturheilkunde der Schulmedizin vorziehen oder umgekehrt?
So pauschal lässt sich das nicht sagen. Es gibt keinen Moment, in dem ich die Schulmedizin komplett ablehnen würde. Es geht immer um ein „und“ statt um ein „oder“. Das versteht man dann unter dem Begriff der Integrativen Medizin. Nehmen wir als Beispiel eine Lungenentzündung: Es steht außer Frage, dass in diesem Fall ein Antibiotikum verabreicht werden muss. Und trotzdem können Einreibungen oder auch Qigong-Übungen im Bett die Atmung unterstützen. Oder bei einer rheumatischen Erkrankung, welche in der Schulmedizin oft mit einer Antikörper-Therapie behandelt wird. Diese kann man nicht einfach absetzen und durch eine naturheilkundliche Behandlung ersetzen. Aber wir können sehr gut eine solche – laufende Therapie – unterstützen und begleiten.
Naturheilkunde und Schulmedizin: „Es geht immer um ein ‚und‘ statt um ein ‚oder‘“
Inwieweit hat die Naturheilkunde inzwischen Einzug in die Schulmedizin gehalten? Auch in der Ausbildung?
Es gibt eine Zusatzbezeichnung in den Ärztekammern: „Naturheilkunde“. Über 600 Kolleginnen und Kollegen haben in unseren Weiterbildungskursen in den letzten Jahren diese Zusatzbezeichnung erlangt.Das Interesse der niedergelassenen Ärzte, aber auch von Klinikärzten, an naturheilkundlichen Methoden ist sehr groß.Viele der Verfahren sind fest in der Schulmedizin verankert und finden sich in den Leitlinien zur Behandlung verschiedenster Erkrankungen.
Es gibt die Vorstellung, dass pflanzliche Mittel harmloser seien als chemische Mittel, die im Labor hergestellt werden. Stimmt das?
Das kann man ganz klar verneinen. Medikamente aus der Natur sind nicht harmlos. Denken Sie beispielsweise an den in allen Pflanzenteilen giftigen Fingerhut, der in medikamentöser Form bei Herzrhythmus-Störungen eingesetzt wird. Hier spielt es absolut keine Rolle, ob die Medikamente aus der Natur sind oder künstlich im Labor hergestellt wurden. Allerdings sind zugelassene Mittel aus der Naturheilkunde häufig besser verträglich.
Kritiker hinterfragen häufig die Wirksamkeit der Naturheilkunde. Kann diese belegt werden?
Studien beleuchten meist einzelne Verfahren oder Methoden bezogen auf eine klare Fragestellung. Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien zu Bewegungstherapie, Ernährung und ordnungstherapeutischen Verfahren. Große Studien über die Akupunktur haben dazu geführt, dass bei Kniearthrose z. B. auch die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten übernehmen. Diese Studien haben erreicht, dass die naturheilkundlichen Verfahren sich in verschiedenen Leitlinien wiederfinden. Das Anwenden dieser wissenschaftlich untersuchten naturheilkundlichen Therapien kann bei den Patienten zu einer Linderung sowie zu einer langfristigen Umstellung des Lebensstiles führen. Wenn die Patienten bei uns zu einer stationären naturheilkundlichen Schmerztherapie aufgenommen werden, wird das, nach erfolgter ambulanter Vorbehandlung, von gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
„Das Interesse der Ärzte an naturheilkundlichen Methoden ist sehr groß“
Was halten Sie von dem Gedanken, die Grenzen zwischen chemischen und pflanzlichen Medikamenten aufzulösen und rein auf Evidenztests zu ihrer Wirksamkeit zu setzen?
Unabhängig davon, ob es ein chemisches Produkt oder ein Medikament mit pflanzlichem Ursprung ist, bestehen Anforderungen an Sicherheit und Wirksamkeit, wenn ein neues Medikament zugelassen wird. In Situationen, in denen das Beachten von möglichen Wechsel-/Nebenwirkungen sehr wichtig ist – wie z. B. im Rahmen einer Chemotherapie –, überprüfen und bewerten wir in der Integrativen Onkologie an den KEM jedoch jedes eingesetzte Mittel (pflanzlich wie chemisch) hinsichtlich der Risiken und Möglichkeiten. Dies ist sehr wichtig, wenn Patienten von sich aus pflanzliche Stoffe einnehmen und es nicht mit ihren Ärzten besprechen. Für ältere, traditionelle Medikamente gibt es die Kommission E, die diese Stoffe immer wieder neu bewertet. So sind möglicherweise schädliche pflanzliche Mittel nicht mehr erhältlich. Was die Evidenztests – also hochwertige Studien – angeht, so sehe ich da gewisse Probleme bei altbewährten Mitteln, die teils schon seit Jahrhunderten eingesetzt werden und deren Unbedenklichkeit hochwahrscheinlich ist. Da stellt sich dann beispielsweise die Frage, ob Sie einen Evidenztest fordern, wenn Sie gegen Halsschmerzen einen Kamillentee trinken.
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Aktiv im Thema
www.naturheilbund.de | Der 1889 gegründete Dachverband deutscher Naturheilvereine vertritt als Laienverband die Interessen seiner Mitglieder in Gesundheitspolitik und -bildung.
www.dgpsf-verein.de | In der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung e. V. versammeln sich Psychologen, die im Schmerzbereich und in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen arbeiten.
www.schmerzgesellschaft.de | Die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. versteht sich als größte wissenschaftliche Schmerzgesellschaft Europas. Sie setzt sich ein für die Förderung von Schmerzforschung und -therapien.
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