engels: Herr Tabatabai, worin unterscheiden sich Opioide von Opiaten?
Darius C. Tabatabai: Wir haben die aus der Natur gewonnenen Opiate, die als Opium oder Morphium bekannt sind, während Opioide häufig synthetisch hergestellte, chemisch verwandte Substanzen sind, die man dann aber unter Laborbedingungen viel konzentrierter herstellen kann. So sind einige Substanzen auch deutlich potenter, als die aus der Natur gewonnenen.
Die sogenannte Opioid-Krise in den USA hat zu erschreckenden Opferzahlen geführt – welche Gründe hat das?
Die USA haben einerseits hinsichtlich der Bewerbung von Medikamenten eine andere Grundhaltung, die ist sehr viel aggressiver. Wir sind in den letzten 40 Jahren davon abgekommen, für Medikamente die eine Abhängigkeit erzeugen können, Werbung zuzulassen. Bei uns geschieht dies direkt bei den Verordnern, an die die Pharmafirmen über Referenten direkt herantreten. Das kann auch schon sehr aggressiv ablaufen, die Werbung ist aber nicht direkt an denjenigen gerichtet, der sie später einnimmt und konsumiert. Die Vorgehensweise einiger Firmen in den USA, die Opioide hergestellt haben, war durchaus sehr perfide, indem sie in der Darstellung der Wirkungsweise die Risiken der Abhängigkeitserzeugung bagatellisiert haben. Und zwar so, dass sowohl die Verordner als auch die Konsumenten ein wenig verblendet waren, welchen Risiken sie sich da aussetzen. Wir haben im Umgang mit Schmerzsyndromen ein ganz anders aufgestelltes Gesundheitssystem, in dem man sehr komplexe Behandlungsmöglichkeiten erhält, und die werden dann von den gesetzlichen Krankenkassen auch bezahlt. In den USA haben wir schon immer die Situation, dass es das Gesundheitssystem dort erforderlich macht, dass ich mich zusätzlich versichere. Das können die wenigsten und der Griff in den Medikamentenschrank ist dort noch viel selbstverständlicher als bei uns. Ich habe hier auch einen viel besseren Arbeitnehmerschutz. In den USA, mit ihren ungesicherten Arbeitsverhältnissen, kann man sich vorstellen, dass die Tendenz, sich mit Schmerzmitteln fit zu halten, für die Arbeit existenziell notwendig ist.
„Einordnung von Schmerz ist bei Amerikanern ein wenig anders als bei Deutschen“
Nun ist zuweilen zu lesen, dass die Verschreibung von Opioiden in Deutschland so stark angestiegen ist, dass sie das Niveau der USA erreicht hat. Droht uns eine ähnliche Situation?
Es gibt einen Anstieg, aber das hält sich in einem relativ engen Bereich. Eine Zahl der BEK besagt, dass bei den nicht-tumorbedingten Schmerzen etwa 1,3 Prozent der Versicherten eine Langzeittherapie von acht Jahren erhielten – das sind jetzt nicht furchtbar hohe Zahlen, aber wir sehen, dass bei bestimmten Diagnosen, bei chronischen Schmerzsyndromen etwa, die durch generative Veränderungen im Bewegungsapparat ausgelöst werden, eine auffallend hohe Zahl von Menschen Opioide erhält, obwohl das nach Leitlinie eigentlich nicht vorgesehen wäre. Da gibt es eine zunehmende Tendenz, was sehr nachteilig ist, weil die Menschen dann in eine Abhängigkeit geraten, eine sogenannte iatrogene, in die sie eigentlich bei einer vernünftigen Führung der Therapie gar nicht hätten geraten müssen. Dann ist es sehr schwer, sie wieder herauszuführen.
Was verhindert hierzulande eine solche Entwicklung?
Dass unser Gesundheitssystem viel breitere Antworten auf die Schmerzsyndrome hat. Wir haben in Deutschland stabil 1200 bis 1300 Drogentote im Jahr. Das ist keine schöne Zahl, aber im Verhältnis zu 80 Millionen Einwohnern hat es eine ganz andere Relation. In den USA ist die Anspruchshaltung auf eine Schmerzlinderung ausgeprägter als bei uns, der Weg zur Verordnung ist in den USA einfacher, wir haben dort ein schlechter ausgeprägtes Angebot an alternativen Möglichkeiten und die Einordnung von Schmerz ist bei den Amerikanern ein wenig anders als hier.
Stattdessen sei Deutschland in Sachen Schmerzmittelversorgung Entwicklungsland gewesen, so einige Stimmen.
Das ist Gott sei Dank ein bisschen Vergangenheit. In der Behandlung von Patienten mit schweren Schmerzen hat sich etwas verändert. Ob es an preußischer Tugend lag, dass der „starke deutsche Mann“ oder die „starke deutsche Frau“ Schmerzen aushält, das ist rein spekulativ. Vielleicht gab es auch noch im Nachkriegsdeutschland lange diese Tendenz, Schmerzen als etwas zu begreifen, dass die Menschen aushalten müssten, und daher wurde sehr restriktiv mit Opiaten umgegangen. Auch in der Krebs- und Palliativbehandlung gab es lange eine sehr restriktive Verordnung. Das hat sich aber deutlich verändert. In derSchmerzmedizin halten wir in dieser Diskussion ganz gut die Balance,indem wir eben nicht opioidhysterisch werden, sondern immer individuell betrachten, wie hoch ist der Nutzen, wie hoch ist das Risiko, dann eine rationale Entscheidung treffen. Das kann auch mal bedeuten, dass man jemandem mit einem chronischen Schmerzsyndrom ein Opioid belässt, weil man mit anderen Mitteln nicht mehr viel dazu beitragen kann, dass es ihm besser geht. Dann muss man mit diesem Risiko halt umgehen. Dass wir jetzt gute Strategien haben, bei Tumorschmerzen zu helfen und da nicht restriktiv sind, das ist sehr wichtig.
„In der Schmerzmedizin halten wir ganz gut die Balance“
Wie kann man sich eine moderne Schmerztherapie vorstellen?
Die modernen, psychosomatischen Abteilungen haben zum Beispiel eigene Schmerztageskliniken, in denen es gar nicht primär darum geht zu entscheiden, welches Medikament der Patient braucht, sondern welche Bewältigungsstrategien.Viele Schmerzen gehen nicht mehr weg und die Menschen sollten erlernen, wie sie mit diesem Schmerz leben, wie sie mit ihm umgehen können und wie sie ihn in ihrem Leben einbauen können, so dass sie trotzdem Lebensqualität haben. Da gibt es ergotherapeutische oder physiotherapeutische Maßnahmen, Entspannungsverfahren oder Medikation. Aus denen wählt man nach einem individuellen Behandlungsschema. Das ist eine sehr ganzheitliche Behandlung und für die Verschreibung von Opioiden gibt es ganz klare Vorgaben, an denen man sich orientieren kann. Die sind dann auch entsprechend eingebettet in andere Behandlungsmaßnahmen, in denen es darum geht, Beziehungsarbeit zu leisten, also mit den Menschen über ihre Lebenssituation zu sprechen. Das Medikament alleine ist sicherlich nicht hilfreich.
Bei welchen Diagnosen ist eine Verschreibung von Opioiden geboten, bei welchen wäre besser davon abzusehen?
Einen frühzeitigen Opioid-Einsatz bei Schmerzsyndromen, etwa Veränderungen am Bewegungsapparat, Rückenschmerzen, oder Bandscheibenvorfällen, bei denen die Menschen auch objektiv Schmerz haben und sehr leiden, finde ich sehr riskant. Denn Opioide blockieren nur die Schmerzwahrnehmung, an den eigentlichen Ursachen bewirken sie gar nichts. Das verhindert im Grunde, die eigenen Grenzen zu erkennen, ich kann dann darüber hinaus gehen und merke es gar nicht so sehr. Womöglich verschlechtert sich dadurch aber die lokale Situation, von der der Schmerz herrührt. Man kann auch die Anpassungsleistung an diesen Schmerzzustand in einen Bereich bringen, in dem ich ihn aushalte, das fällt aber vielen Menschen schwer, weil es sehr anstrengend ist – dann muss man jeden Tag Rückengymnastik machen und wenn man es einmal vergisst, geht es von vorne los. Wenn ich aber ein Opioid einnehme, dann ist der Schmerz erst einmal wie hinter einer Glocke. Ich nehme ihn nicht mehr so wahr, ich fühle mich dann aber auch wie hinter einer Glocke, weil nicht nur der Schmerz weg ist, sondern auch ein Teil meiner Wahrnehmung. Wenn sie dann merken, der Schmerz kommt wieder, erhöhen die Betroffenen die Dosis, damit diese Schmerzblockierung wieder eintritt, und dann ist man schon in der Verselbstständigung der Abhängigkeit. Die kann unter Umständen auch gefährlich werden – wenn ich noch andere Erkrankungen habe und Medikamente in Wechselwirkungen treten, die dann teilweise eigene Erkrankungen bedingen.
„Opioide blockieren die Schmerzwahrnehmung. An den Ursachen ändern sie nichts“
Gibt es Risikogruppen für die Entwicklung einer Abhängigkeit?
Das ist etwas sehr Individuelles. Wenn jemand schon wegen anderer Konsumstörungen in Behandlung ist, kann ich mir vorstellen, dass man mit einem Opioid in seiner Hand sehr genau umgehen muss. Das heißt nicht, dass ein Mensch, der schon eine Konsumstörung hat, keine Opioide bekommen darf. Wenn die Indikation dafür besteht, und man mit einer rationalen Entscheidung dazu kommt, dann steht es ihnen zu wie allen anderen auch. Man muss dann nur gut im Blick behalten: Wie machen wir das mit der Behandlung? Kommt er damit zurecht, eine ganze Packung zu Hause zu haben, kommt er mit der Dosierung zurecht oder zweifelt er gar selbst daran. Das ist in unserem Gesundheitssystem nicht so einfach, weil die ambulanten Strukturen nicht darauf ausgerichtet sind, Medikamente zu verabreichen, und die Patienten finden es auch nicht so toll, jeden Tag in die Praxis zu müssen – das kennen wir von der Substitution, aber nicht unbedingt von der Opioidvergabe. Das sind individuelle Situationen, bei denen man gut entscheiden muss und das ist eine Herausforderung.
Welche Einstellungen gegenüber Schmerzmitteln stellen Sie bei den Patienten fest?
Ganz unterschiedliche. Ich hatte in dieser Woche ein Gesundheitsseminar in der Reha zum Thema „kritischer Umgang mit Medikamenten“, in dem sich einige sehr gut informiert zeigten und ein kritisches Bewusstsein hatten. Aber das ist eine spezielle Klientel. Das sind Menschen, die sich bewusst dafür entschieden haben, etwas gegen eine Konsumstörung zu machen, die kann man relativ leicht dazu bewegen, sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Und dann gibt es eine Gruppe von meist jungen Menschen, die hinsichtlich des eigenen Konsums vielleicht noch unkritisch ist und einen riskanten Konsum aufweist und dann über Instagram oder andere moderne Kommunikationsmedien an Informationen kommt. Da gibt es wieder eine andere Dynamik. Wir dürfen auch nicht unterschätzen, wie viel Opioide in Deutschland illegal im Umlauf sind. Über Umwege komme ich an Opioide sogar über den Postweg heran. Da ist die Nachfrage bei manchen groß, weil man leistungsstärker und unempfindlicher sein möchte.
„Viele Schmerzen gehen nicht mehr weg“
Bleiben Opioide trotz des Suchtpotentials unverzichtbar?
Also, es ist ähnlich wie bei den Benzodiazepinen, die sind ja auch Fluch und Segen. Opioide sind eben auch Medikamente für Lebenssituationen, in denen man nur verdammt froh sein kann, dass man sie hat und ich glaube, wir sind schmerztherapeutisch von der Bandbreite her ganz gut aufgestellt. Wir müssen nur – und das ist das Aufwändige – die richtige Antwort finden und die liegt eben in einem komplexen Behandlungsschema. Teuer ist daran vor allem der Mensch – also der Mensch, der mit dem Patienten spricht, der dabei hilft, eine Strategie zu entwickeln, wie man akzeptieren kann, dass man jemand ist, der immer mal wieder Schmerzen hat, und wie man es schafft, trotzdem Lebensqualität zu entwickeln. Das braucht Zeit und das ist richtig teuer. Eine Wunderpille, die eben nicht die Nebenwirkungen und Abhängigkeit von Opioiden aufweist, aber trotzdem den Schmerz nimmt, das ist natürlich eine Wunschvorstellung. Die ist aber nicht nur unrealistisch, sondern möglicherweise auch gefährlich. Denn der Schmerz hat einen Sinn, der sagt mir ja: Hör mal, du hast da eine körperliche Grenze, überschreite die nicht. Und wenn ich eine Wunderpille habe, die den Schmerz beseitigt, aber nicht die Ursache, kann es ganz schön nach hinten losgehen. Insofern geht es gar nicht darum, diese Wunderpille zu entwickeln, sondern eher darum, sich zu überlegen, welche Entscheidung treffen wir gesellschaftlich, was wollen wir für ein Gesundheitssystem haben. Wenn man dieses immense Vermögen betrachtet, das wir beispielsweise in Deutschland haben, und dann sieht, dass wir hier allen Ernstes die Gesundheit auf eine Marktebene gehoben haben, auf der private Krankenhausbetreiber bis zu 15 % Rendite erwarten, darunter aber letztlich Krankenkassenbeiträge sind, dann ist das ein Problem. Wenn wir da als Gesellschaft eine andere Entscheidung treffen würden, dann wäre auch mehr Geld drin für eine suffiziente Schmerzbehandlung.
Aktiv im Thema
www.naturheilbund.de | Der 1889 gegründete Dachverband deutscher Naturheilvereine vertritt als Laienverband die Interessen seiner Mitglieder in Gesundheitspolitik und -bildung.
www.dgpsf-verein.de | In der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung e. V. versammeln sich Psychologen, die im Schmerzbereich und in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen arbeiten.
www.schmerzgesellschaft.de | Die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. versteht sich als größte wissenschaftliche Schmerzgesellschaft Europas. Sie setzt sich ein für die Förderung von Schmerzforschung und -therapien.
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