Mit einer Mischung aus Amnestie und Amnesie ging die deutsche Nachkriegsgesellschaft an die Analyse der NS-Zeit heran. Die vielmals kolportierte Verdrängung deutscher Verbrechen ins Unbewusste ist lediglich ein Euphemismus; massenhafte Verleugnung und Freisprechen von eigener Schuld waren aktive Herangehensweisen und eben nicht unbewusst. Stattdessen wurde die Schuld an den Verbrechen der NS-Zeit Adolf Hitler und einer Clique von Tätern zugeschoben, während der durchschnittliche Deutsche nichts wusste und auch nicht beteiligt war. So war es auch möglich, dass die Wehrmacht mit ihren rund 19 Millionen Angehörigen, die eine zentrale Rolle im Vernichtungskrieg und beim Judenmord eingenommen hatte, vom ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) als „einziger anständiger Verein“ im Dritten Reich bezeichnet werden konnte.
Erfahrung statt Integrität
Als ideologischer Deckmantel fürden nicht vollzogenen Bruch mit der faschistischen Vergangenheit in der BRD fungiert seit jeher die Bezeichnung „Stunde Null“. Hinter dieser Floskel verbergen sich die Kontinuitäten — organisatorischer und persönlicher Natur —die zwischen faschistischem „Dritten Reich“ und BRD bestanden, zum „Konsens“ wurden und (zum Teil bis heute) in Behörden und Ministerien fortbestehen.Es ging der Adenauer-Republik beim Aufbau der 1949 gegründeten BRD im Angesicht des Kalten Krieges mit der Sowjetunion und dem Ostblock vor allem um erfahrene Köpfe — Integrität musste zurückstehen. (Ein Blick sei empfohlen auf den Eintrag „Liste ehemaligerNSDAP-Mitglieder, die nach Mai 1945 politisch tätig waren“ der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Vor allem CDU/CSU hatten demnach keine Hemmungen, ehemalige Nazis in ihren Reihen aufzunehmen, aber auch in FDP und SPD sind sie zu finden.) So war es möglich, dass in zahlreichen Behörden und Ministerien ehemalige Nazis mit Kusshand eingestellt wurden. Im Justizministerium waren bis ins Jahr 1970 bis zu 70 Prozent der leitenden Funktionen von Beamten mit Nazi-Vergangenheit besetzt. Mit Kurt Georg Kiesinger (CDU) wurde ein ehemaliger Nazi gar Bundeskanzler (1966 bis 1969).
Erst die 68er skandalisierten die NS-Vergangenheit im Wirtschaftswunderland schließlich auf zwei Ebenen: Auf einer systemischen mit ihrem Ausspruch „Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren“, einer Anspielung auf das zwölf Jahre währende „Tausendjährige Reich“ der Nazis. Außerdem auf einer persönlichen Ebene, indem sie das Schweigen der 1950er Jahre brachen und ihre Eltern fragten: „Was habt ihr damals getan, was gewusst?“
Revisionistische Tricksereien
Eine Zäsur, aber auch ein Spiegelbild der Veränderungen in den 1980ern — Helmut Kohls (CDU) „geistig moralische Wende“ — stellt der Historikerstreit dar. Er war die Reaktion auf den Artikel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ (1986) des Historikers Ernst Nolte. Nolte behauptete, der deutsche „Rassenmord“ an den Juden sei bloß die Reaktion auf die „Klassenmorde“ am Bürgertum in der Französischen Revolution von 1789 und der Russischen Revolution 1917 gewesen, Auschwitz sei nur Reaktion auf den Archipel Gulag. Der Philosoph Jürgen Habermas widersprach damals den revisionistischen Tricksereien Noltes scharf. Er machte deutlich, dass nur die Annahme des in Auschwitz Geschehenen als singuläres Ereignis, den Anschluss an die universalistischen Traditionen, den unveräußerlichen Menschenrechten der europäischen Aufklärung wiedergefunden habe. Der 2018 von Alexander Gauland (AfD) angestellte Vergleich der NS-Zeit mit einem „Vogelschiss in der Geschichte“ ist nur die vulgäre Zuspitzung des Nolte-Revisionismus.
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