In den 1870er Jahren muss es in der Höheren Mädchenschule in der Elberfelder Aue zwei sehr unterschiedliche Klassenkameradinnen gegeben haben: Die eine, Tochter eines jüdischen Bauunternehmers, verträumt und voller Phantasie, die andere, Tochter eines calvinistischen Textilgeschäft-Inhabers, wissbegierig und strebsam. Als Erwachsene sollten aus ihnen zwei der bedeutendsten Frauen ihrer Zeit werden: Es handelt sich um niemand geringes als Else Lasker-Schüler, der später weltberühmten Dichterin und Helene Stöcker, einer der bedeutendsten Frauenrechtlerinnen des 20. Jahrhunderts und der ersten Frau aus Deutschland, die jemals einen Doktortitel erwarb.
Es sind diese unerwarteten Zusammenhänge, die den Reiz eines Stadtspaziergangs ausmachen, der unter dem Titel „Frauensache“ die Lebensgeschichten von fünf berühmten Wuppertalerinnen nachzeichnet. Zur Führung haben sich etwa 20 Interessierte bei strahlendem Sonnenschein an der Schwebebahnstation Robert-Daum-Platz eingefunden. Die Frauen sind stark in der Überzahl. „Schön, dass wenigstens zwei Vertreter des anderen Geschlechts anwesend sind“, lacht Stadtführerin Gisela Rohleder zu Beginn. Der Autor ist in dieser Zählung allerdings bereits eingeschlossen.
Eigentlich ist das geringe Männerinteresse schade, denn während sich die Teilnehmenden in den nächsten knapp drei Stunden auf eine Spurensuche der Frauen begeben, erfahren sie gleichzeitig auch viel über die Zeitgeschichte und ihre Heimatstadt. Erste Station ist das Elternhaus von Else-Lasker-Schüler, das am Rande des Briller Viertels von der kindlichen Prägung der wegweisenden Künstlerin erzählt. Auch heute kann man sich noch bildhaft vorstellen: Hier die behütete Kindheit mit großem Garten, viel Bildung aber auch viel bürgerlicher Konvention. Gleich gegenüber dagegen der Ölberg, einem damals sehr rauen und armen Arbeiterviertel, in das die junge Else nur gelangte, weil sie ihren Vater (als Junge verkleidet) beim Eintreiben der Miete begleitete. Später hat die Dichterin diese kontrastreichen Erfahrungen in ihrem berühmten Stück „Die Wupper“ verarbeitet; einem der unzähligen herausragenden literarischen Werke der Künstlerin.
Es sind dann später vor allem die Brüche mit den Konventionen ihrer Kindheit, die das Leben von Else-Lasker Schüler bestimmen sollten. Die Teilnehmerinnen der Stadtführung erfahren von ihrer Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker, mehr Schein als Sein, ihrem Berliner Künstlerleben und den finanziellen Engpässen, die sie Zeit ihres Lebens begleiten sollten. In den Erzählungen der Stadtführerin tauchen dann auch die vielen Schicksalsschläge der Dichterin auf, angefangen vom frühen Verlust ihrer Eltern und ihres Lieblingsbruders Paul, bis hin zum Tod ihres einzigen Sohns und schließlich ihrem eigenen einsamen und verarmten Ende 1945 im Jerusalemer Exil.
Das Schicksal eines frühen Tods im Exil teilte Else Lasker-Schüler mit Helene Stöcker. Wie die deutsch-jüdische Schriftstellerin musste Stöcker Deutschland 1933 verlassen und starb schließlich 1943 in New York an Brustkrebs. Doch vorher leistete Stöcker Beeindruckendes: Nachdem sich die Philosophin und Pazifistin das Recht auf ihren Studienabschluss hart erkämpfen musste, setzte sie sich in den 1910er und 1920er Jahren lautstark für viele wegweisende Forderungen ein: die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, das Recht auf Abtreibung, die Straffreiheit von Homosexualität. „So früh schon?“, fragt ein Teilnehmer. „Ja, wir waren schon einmal sehr weit“, antwortet Stadtführerin Gisela Rohleder und merkt an, wie lange sich die Stadt Wuppertal auch nach dem Ende der Nazi-Diktatur schwer mit ihren berühmten Töchtern getan hatte.
Tatsächlich: Erst 2014 wurde in der Nähe des Laurentius-Platzes ein Denkmal für Helene Stöcker eingeweiht. Diese Skulptur wurde wiederum von der vor wenigen Jahren verstorbenen Wuppertaler Bildhauerin Ulle Hees begonnen, deren Lebensgeschichte in der Stadtführung nun die Brücke zu den Frauen der Nachkriegsgeneration schlägt. Es ist auch eine Geschichte der weiblichen Emanzipation: Hees, deren warmherzige Art einige der Anwesenden auch persönlich kennengelernt hatten, war als Frau inzwischen nämlich durchaus in der Lage, gegenüber den Stadtoberen ihre Vorstellung einer Skulptur durchzusetzen: So steht ihre Figur Mina Knallenfalls, entgegen der ursprünglichen Idee der Auftraggeber, ohne Zaun und Sockel mitten in der Elberfelder City. Eine Figur zum Anfassen.
Es hat sich viel geändert seit den Zeiten von Else-Lasker-Schüler und Helene Stöcker. Dafür steht auch der Werdegang von Pina Bausch, vor deren langjähriger Wirkungsstätte, dem Schauspielhaus, die Tour an diesem Tag endet: Das Talent der Solinger Wirtshaustochter wurde bereits früh erkannt und gefördert. Noch vor ihrem 20. Geburtstag schloss Pina Bausch ihr Tanzstudium an der Essener Folkwangschule mit einem Leistungspreis ab und konnte danach ihr einzigartiges Können auch dank eines Stipendiums in den USA weiter entwickeln und verfeinern. Schließlich waren es die künstlerischen Freiheiten, die ihr der damalige Intendant Arno Wüstenhofer in den 1970er Jahren gegen enormen Widerstand gewährte, die die Ausnahmekünstlerin nach Wuppertal locken konnten. Ein Engagement, das Bausch der Stadt mit lebenslanger Treue dankte. Und mit ihrem Tanztheater, das den Namen der Stadt bis heute in die ganze Welt trägt.
Nachdem die Teilnehmenden der Stadttour dann noch einige Einblicke in das Leben von Hanna Jordan, einer der ersten Fernsehbühnenbildnerin des WDR und sozial engagierte Mitbegründerin des Wuppertaler Nachbarschaftsheims, erhalten, steht für alle Teilnehmenden fest: Die Geschichte der Stadt wurde maßgeblich auch von Frauen mitgeschrieben. Selbst wenn das heute immer noch nicht allen bekannt ist.
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