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Jörg Blasius
Foto: privat

„Verdrängung aus dem Lebensstil“

27. November 2019

Soziologe Jörg Blasius über Gentrifizierungs-Mythen

engels: Herr Blasius, wie haben sich unsere Städte in den letzten Jahren verändert?

Jörg Blasius: Innenstädte werden immer beliebter, wir können so etwas wie eine Rückwanderung in die Städte beobachten. In den Siebziger Jahren ist man mit seiner Familie noch in ein Haus ins Grüne gezogen. Doch die veränderten Familienverhältnisse heutzutage machen ein Leben in der Stadt viel attraktiver. Die Familien sind kleiner, sie brauchen keine ganzen Häuser, sondern sie ziehen gerne in eine Altbauwohnung in der Stadt. Wo sie zusätzlich ein riesiges Kulturangebot haben, kurze Wege zum Einkaufen oder zu anderen Aktivitäten.

Wo ließ sich Gentrifizierung zuerst beobachten?

Erstmals wurde Gentrifizierung für England beschrieben. Das Modell ist auf Deutschland zwar ebenfalls anwendbar, allerdings dauert das hier alles wesentlich länger. In den USA haben die meisten befristete Mietverträge, in der Regel auf zwei Jahre. Dadurch haben wir dort eine sehr hohe Fluktuation, es kann sehr viel schneller auf den Markt reagiert werden. Dadurch steigen die Mietpreise in Amerika sehr viel schneller als das hier überhaupt erlaubt ist. In Deutschland ist der Mechanismus der Gentrifizierung ein anderer. Hier werden nur relativ wenige Mieter wirklich verdrängt.

Sondern?

Die Pioniere, das sind jene Personen, die ein Viertel zuerst für sich entdecken und dort zuerst gewohnt haben, sind in Deutschland vor allem Studierende in Wohngemeinschaften. Aber anstatt nach dem Studium eine Familie zu gründen und aufs Land oder an den Stadtrand zu ziehen, bleiben sie häufig in den Wohnungen. Wenn die anderen Mitglieder der ehemaligen Wohngemeinschaften aufgrund eines Jobangebotes in eine andere Stadt ziehen, bleiben sie alleine oder zusammen mit ihrem Partner in der Wohnung. Wenn sie das Studium beendet haben und einen entsprechenden Job gefunden haben können sie sich diese Wohnung alleine oder zu zweit leisten. In Amerika ist es so: wenn ein Gebiet auf einmal interessant wird, wird der alte, günstige Mietvertrag einfach nicht verlängert. Wenn der Markt es hergibt kann der Mietpreis deutlich erhöht werden, um das Doppelte oder mehr. So etwas ist in Deutschland durch die bestehenden Mietgesetze überhaupt nicht möglich. In Deutschland sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle Mietverträge unbefristet, zum anderen dürfen die Miete innerhalb von drei Jahren auch nur um bis zu 20 % steigen und dies auch nur bis zur Vergleichsmiete.

Trotzdem können wir in den Innenstädten hohe Mietpreissteigerungen feststellen.

Es gibt zwei Arten von Mietpreissteigerungen, doch nur bei einer kommt es zu Verdrängung der Mieter. Das Eine sind Neuvermietungen. Da kann es eklatante Sprünge geben, gerade in Gebieten die sehr beliebt sind, da kann der Mietpreis durchaus um 50 % und mehr steigen, auch abhängig davon, was die Vormieter bezahlt haben. Der Preis darf zwar nur 20-30 % über dem Mietpreisdurchschnitt liegen, aber es gibt immer Möglichkeiten einen höheren Preis zu erhalten, letztlich ist dies auch eine Frage von Angebot und Nachfrage. Die andere Art der Mietpreissteigerung, und die führt tatsächlich zu Verdrängungen, ist, dass Vermieter bei Modernisierungen jährlich 11 % der Kosten auf die Miete umlegen dürfen, z.B. auch durch Maßnahmen welche die Energieeffizienz erhöhen, wie dies von der Regierung gefordert wird. In der Summe kann sich der Mietpreis nach den Modernisierungsmaßnahmen durchaus verdoppeln und dann haben die bisherigen Mieter ein Problem.

Die dann in ein weniger attraktives Viertel ziehen müssen.

Das passiert in Deutschland eher weniger. Die Mieter haben in so einem Fall ja zwei Möglichkeiten: entweder bezahlen sie die erhöhte Miete oder sie ziehen ganz woanders hin, da könnten wir dann von Verdrängung sprechen. Dies machen sie aber nur wenn sie eine gute Alternative haben, bei der sie sich nicht deutlich verschlechtern – und dies ist eher selten, sie müssen dann den Preis der Neuvermietung bezahlen oder in ein weniger attraktives Viertel ziehen. In der Regel akzeptieren die Leute daher die höhere Miete und verzichten auf andere Sachen. An erster Stelle der Einsparliste steht meistens der Urlaub oder der Verzicht auf größerer Anschaffungen, z.B. auf das zweite oder ein neues Auto. Es ist also mehr eine Verdrängung aus dem Lebensstil als aus dem Wohnraum. Verdrängungen machen daher in Deutschland ‚nur‘ etwa 4-5 % der Umzüge aus.

Wo sehen Sie das größere Problem?

In den großen und bei Touristen beliebten Städten, wie z.B. Köln oder Berlin, gibt es ein anderes Problem, dass immer stärker und bislang kaum beachtet wird: AirBnB und andere Internetplattformen. Gemeint ist die Vermietung von Wohnungen, die eigentlich für die Bewohner der Stadt vorgesehen sind, an Touristen, die lieber in einer zentrumsnahen Wohnung als im Hotel unterkommen möchten. In Berlin etwa blockiert AirBnB derzeit etwa 20.000 Wohnungen – und das insbesondere in den bevorzugten Gebieten, etwa die Hälfte davon wird dauerhaft angeboten. Dadurch erhöht sich der Druck auf den zentrumsnahen Wohnungsmarkt noch stärker, also gerade in den Bereichen, wo der Wohnraum knapp und besonders stark nachgefragt wird.

Welchen Effekt wird der Mietendeckel haben, der nun für Berlin beschlossen worden ist?

Der Mietendeckel betrifft eigentlich nur die Bestandsmieten – und diese werden real nur marginal erhöht. In Köln-Deutz und -Mülheim, liegen die normalen Mietpreissteigerungen im Rahmen der Inflationsrate, das haben wir bei unseren Forschungen herausgefunden. Sinnvoller wäre es, wenn die Vermieter nicht mehr 11 % bei Modernisierungen absetzen dürften. Das machte zu der Zeit Sinn, als das Geld noch für 6-8 % von den Banken verliehen wurde, wie das vor zehn Jahren üblich war, heute sind es 1,5 %. Das heißt, heute macht ein Vermieter einen hohen Gewinn. Was der Staat also dringend machen müsste, wäre den Absetzbereich von 11 % auf etwa 5 % zu senken, das würde diese Art von Mieterhöhungen eindämmen. Wie deutliche Erhöhungen bei Neuvermietungen auch praktisch ausgeschlossen werden können, ist mir ein Rätsel.

Der Berliner Mietendeckel ist also nur ein scheinbarer?

Ja, denn real deckeln sie nicht wirklich die Mieten. Was einen Effekt hatte, war, dass Berlin viele Wohnungen, die aus der Sozialbindung liefen, von den Kommunen und öffentlichen Trägern, massenhaft an Spekulanten verkauft hat. Man verkauft 20.000 Wohnungen, und kauft davon wieder 6.000 zurück – wobei die Stadt natürlich deutlich mehr zahlen muss, als sie vorher bekommen hat. Das macht nur wenig Sinn, der ehemalige Verkauf als auch der spätere Kauf sind Zeichen sehr kurzfristiger Planung und aktueller kommunaler Politik. Viel sinnvoller wäre es wenn die Politik endlich aufhören würde, Wohnungen zu verkaufen, wenn sie aus der Sozialbindung fallen. So wie es zum Beispiel Wien praktiziert wird. Dort bleibt ein erheblicher Teil der vorhandenen Wohnungen in der Sozialbindung und die Wohnungen werden auch an Mieter vergeben, die eigentlich nicht sozial bedürftig sind, womit eine wahre Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt besteht. So kann eine Stadt dafür sorgen, dass die Mietpreise bei Neuvermietungen nicht so stark steigen, weil sie selbst attraktive Wohnungen in attraktiven Stadtteilen im Angebot haben. Sie können mit diesem Gegengewicht für Balance sorgen.


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realize-ruhrgebiet.de | Blog des offenen Netzes “Recht auf Stadt – Ruhr”.
kottiundco.net | Die Mietergemeinschaft am Kottbusser Tor streitet mit klaren Forderungen u.a. für eine Kommunalisierung des Sozialen Wohnungsbaus.

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Interview: Lidia Polito

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