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Wo bleibt das barrierefreie Deutschland?
Foto: Sabrina Didschnuneit

„Wir sind Menschen dritter Klasse“

23. Februar 2017

Karl-Josef Günther über den problematischen Alltag von Menschen mit Behinderungen – Thema 03/17 Fremdkörper

engels: Herr Günther, denken Sie, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland gut in die Gesellschaft integriert sind?
Karl-Josef Günther: Nein. Wir werden von den anderen Menschen noch diskriminiert, weil wir nicht überall teilnehmen können und ausgeschlossen werden.

Das ist eine klare Aussage.
Das ist meine persönliche Meinung, ja. Wir erleben Diskriminierungen zum Beispiel, wenn Veranstaltungen stattfinden und wir nicht daran teilnehmen können. Das liegt dann daran, dass man grundsätzlich vergessen hat, in irgendeiner Form Rampen anzulegen, damit auch Menschen im Rollstuhl dabei sein können.

Nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg 2010 wurden viele Sicherheitsvorkehrungen festgelegt. Kann man in dem Zuge nicht auch festlegen, dass die Teilnahme von Menschen mit Behinderungen bei Veranstaltungen berücksichtig wird?

Karl-Josef Günther
Foto: privat

ZUR PERSON

Karl-Josef Günther (63) ist Leiter der BSK-Landesvertretung Selbsthilfegruppe Körperbehinderter in Nordrhein-Westfalen.


Das ist richtig, betrifft aber eher die Stadt und den Veranstalter, die uns meist schlicht und ergreifend vergessen haben. Wir müssten dann ebenfalls berücksichtigen, dass es bei manchen Ärzten, Cafésoder Restaurantsauch keinen Fahrstuhl oder eine Rampegibt,die man zum Beispiel an einer Eingangstreppe anlegen kann. Eine Aussage, die ich zuletzt gehört habe, war: „Das stört das Stadtbild“. Dieser Satz ist so getätigt worden.

Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?
Ich muss dann die Hände in der Tasche zur Faust ballen. Das trifft mich voll. Ich sitze selbst seit 2011 im Rollstuhl, hatte vier Bandscheibenvorfälle, Arthrose, Lähmung im linken Bein sowie drei Infarkte und einen schweren Herzklappenfehler. Dabei denke ich, „bete zu Gott, dass du nicht auch auf einmal auf einen Rollstuhl angewiesen bist“.

Fühlen Sie sich nach solch einer Aussage auch persönlich angegriffen? Man könnte ja meinen, dass Menschen mit Behinderungen auch das Stadtbild störten. Und was kann man gegen solche Aussagen tun?
Ja, ich fühle mich angegriffen. Wir können nur gemeinsam dagegen auf die Barrikaden gehen. Wir haben zum Beispiel vor, einen Rollstuhlstammtisch in Brakel zu eröffnen, damit die Menschen sich untereinander austauschen können. Alleine in Brakel, wo ich wohne, gibt es schätzungsweise 17 bis 20 Rollstuhlfahrer. Wichtig ist für so einen Stammtisch, dass sie in barrierefreien Gebäuden stattfinden, wo auch genug Platz herrscht. Und wo es eine behindertengerechte Toilette gibt.

Auf die Barrikaden zu gehen kann bedeuten, sich auszutauschen – aber auch, politisch zu arbeiten.
Genau, die politische Arbeit ist auch gemeint. Vor den Wahlen wollen wir auf die Straße gehen und die Politiker ansprechen, dass es so nicht geht. Sie müssen auch für Menschen mit Behinderungen etwas tun. Sie sind genauso Wähler wie alle anderen auch.

Was sind Ihre wichtigsten politischen Forderungen?
Uns Menschen mit Behinderung und auch Rollstuhlfahrern nutzt es wenig, wenn vor der Wahl Versprechungen gemacht werden, „wir kümmern uns darum, dass muss geändert werden“ - und nach den Wahlen bleibt alles wie es ist. Ich persönlich fordere die Politiker auf – das werde ich auch auf Wahlveranstaltungen, wo ich zugegen bin, kundtun – keine Wahlversprechen zu machen, die doch nicht einhalten werden. Ich fordere Politiker aller Parteien auf, sich mit Selbsthilfegruppen Körperbehinderter und auch mit einzelnen betroffenen Menschen zusammen zu setzen und Taten folgen lassen. Zum Beispiel darin, dass Scooterfahrer im ÖPNV wieder befördert werden und nicht erst befördert werden, wenn der Scooterfahrer eine Prüfung abgelegt hat und beweisen muss, dass man den Scooter fahren kann. Das ist absoluter Schwachsinn für mich, da ich selber Scooterfahrer bin. Wir, die Menschen mit Behinderungen, werden behindert.

Welche Probleme sehen Sie in Ihrer Umgebung?
Bei einem „Städtecheck“ von Schülerinnen und Schülern des Abiturjahrgangs im letzten Jahr wurde unsere Kreisstadt ganz schlecht bewertet. Einzelne Punkte waren, dass sie nicht in verschiedene Geschäfte hineingekommen sind, weil es eine Treppe oder Rolltreppe gab oder der Fahrstuhl defekt war. Oder es gab zu hohe Kanten vor dem Eingang. Auch die normalen Bürgersteige sind mit einem Schieberolli ohne Hilfe nicht zu überqueren – keine Chance. Das Kopfsteinpflaster spielt ebenfalls eine große Rolle, das können sie mit einem Schieberollstuhl alleine nicht schaffen. Wenn man in die Kreisstadt fährt, weil man dort ja auch mal was zu erledigen hat, wird es problematisch.

Unter anderem in Wuppertal gründen sich in der letzten Zeit immer mehr Initiativen von Eltern, die ihre Kinder mit Behinderungen in Wohngruppen unterbringen. Ist das für Sie ein Zukunftsmodell?
Ja, warum nicht. Ich finde das gut. Wir haben zum BeispielauchWohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Ich sehe eigentlich nur Vorteile darin. Die Kinder und Erwachsenen, die dort wohnen, können besser gefördert werden. Dadurch ergreifen sie selbst die Initiative und machen im Alltag oft mehr selbst.

Können Sie selbst eigentlich noch arbeiten?
Nein, aufgrund meiner Erkrankung bin ich seit 2002 Rentner. In meinem Freundes- und Bekanntenkreis sind Menschen im Rollstuhl, die arbeiten gehen. Zum Beispiel in der Verwaltung. Aber selbst in diesen Häusern haben sie noch mit Barrieren zu kämpfen.

Fühlen Sie sich manchmal als „Mensch zweiter Klasse“?
Nicht nur als Mensch zweiter Klasse, sondern sogar als Mensch dritter Klasse. Das liegt daran, dass die Fußläufer uns Menschen mit Behinderungen oft nicht beachten. Sie laufen uns um und fangen dann an zu schimpfen, „Alter, kannst du nicht aufpassen?“. Das erlebe ich sehr, sehr oft, vor allem bei jüngeren Menschen, die Kopfhörer im Ohr haben und laut Musik hören. Wenn man sie um etwas Platz bittet, reagieren sie gar nicht darauf. Das ist ein großes Problem.

Das heißt man muss nicht nur ein Bewusstsein für bauliche Veränderungen schaffen, sondern es muss auch etwas im Kopf Ihrer Mitmenschen passieren?
Ja, es muss einen Ruck geben in den Köpfen der Menschen ohne Behinderungen.


Lesen Sie weitere Artikel 
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema

Aktiv im Thema

www.bsk-ev.org | Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK) ist mit über 25.000 Mitgliedern und Förderern deutschlandweit organisiert.
www.bvkm.de | Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen
www.behindertnaund.de | Wuppertaler Verein „Behindert, na und?“
leidmedien.de | Internetseite zur Vermittlung von Wissen über vorurteilsfreie Sprache

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