„Baukulturatlas Deutschland 2030/2050“ – so heißt ein staatlich beauftragtes Forschungsprojekt, das die Bundesrepublik in einer so datierten Zukunft entwirft. Der Stadtgeograf Stefan Carsten ist Mitautor des dazugehörigen Buchs „Spekulationen Transformationen“, das Interviews, Essays und weitere Beiträge versammelt – Motto: Baukultur als „gelebte Umwelt“. Gern reist er durchs Land und konfrontiert das Konzept mit lokalem Leben. In Wuppertal bot sich da in Zusammenarbeit mit dem Verein „Pro Mirke e.V.“ ein denkbar passender Ort für ernsthafte Planspiele: die „Utopiastadt“ im Mirker Bahnhof.
Das Publikum – zahlenmäßig überschaubar, aber neugierig – erlebte hier am Montag zunächst einen Zugriff aufs Heute, der auf 24 Karten das Land nach zuweilen erstaunlichen Kriterien abbildet: Nicht nur „Kommunale Schulden und Immobilienpreise“ ließen sich da in ihrer Verbreitung ablesen wie sonst die Geländeerhebungen im Schulatlas, sondern auf einer anderen auch ein Aspekt wie „Väter in Elternzeit und Frauen mit Hochschulabschluss“. Carsten: „Da sehen wir auch, wo die ‚Herdprämie‘ herkommt – hier, aus dem Südosten.“
Im Kern standen aber drei Modelle für urbane Organisation, und damit wurde die Utopie schließlich weniger ideell als zupackend. „Netzland“ als Vision steht dabei zunächst theoretisch für vernetzte Versorgung und Kommunikation, „Integralland“ für Verdichtung der Innenräume und „Wattland“ für eine energieintensive Wissensgesellschaft. So weit, so abstrakt. Aber für die Besucher hieß all das dann eben auch Mittun und Mitentwerfen: Eines der Modelle aussuchen, Stift in die Hand und auf schon vorbereiteten Plänen skizzieren, wie es in der Mirke umsetzbar wäre. „Eure Aufgabe!“, beschied der Moderator freundlich die Besucher und entließ sie für dreißig Minuten zur Gruppenarbeit.
Und die Besucher? Gingen sofort fleißig ans Werk, um sich ihrem favorisierten Modell zu widmen. Da mochte man fast vom „genius loci“ sprechen, dem typischen Geist eines Ortes wie „Utopiastadt“. Die Gründung im einstigen Bahnhof ist ja ein Treffpunkt, andem Ideen nicht nur gesponnen, sondern auch realisiert werden: Beim Coworking werden seit Jahren andere Arbeitsformen praktiziert, vor der Tür versorgen Ehrenamtler die Nordbahntrasse mit Leihrädern, eine Open-Data-Initiative engagiert sich für bürgernahe Information. Auch durch diese praktische Ader wohl fand die Aufforderung zum Mitspekulieren schnell offene Ohren und tätige Teilnahme.
Binnen Minuten war da auf dem Plan der „Netzland-Gruppe“ die Trasse zur künftigen Lebensader erklärt und die angrenzende Freifläche strichweise mit Windrädern besiedelt. Und die „Wattland-Gruppe“ hatte am Ende nicht nur das Wort „Watt-Arche“ geprägt, als griffige Vokabel für neue Hochenergiebauten. Die Spontan-Planer gaben auch zu bedenken, dass die Abhängigkeit von Energie als neuer „Währung“ wahrscheinlich eine neue Unterschicht schaffen würde – Lösung, logisch: Ein „Watt-Gym“, in dem sich Arme ihr Einkommen buchstäblich erstrampeln. Und da mochte man denn merken, dass zum Zukunftsplanen auch gehört, ausbeuterische Arbeit und andere längst aktuellen Unarten im Blick zu behalten. Vision heißt ja nicht Wunschkonzert.
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