ZUR
PERSON
Werner Rügemer (74) ist Publizist und lehrt an der Uni
Köln im Fachbereich Humanwissenschaften.
engels: Herr Rügemer, in Ihrem letzten Buch schreiben Sie über Arbeitsunrecht. Zu welchen Methoden greifen Unternehmen, um Druck auf ihre Angestellten aufzubauen?
Werner Rügemer: Das Spektrum, wie Unternehmer und ihre Berater heute Druck auf Beschäftigte ausüben oder gezielt Angst verbreiten, ist so breit, da können wir uns von einem Standardbeispiel zum nächsten hangeln. Ich nenne mal ein aktuelles Beispiel. In den Filialen eines Discounters geht es gegenwärtig darum, dass das Unternehmen die Beschäftigten auffordert, neue Arbeitsverträge zu unterschreiben. Diese neuen Verträge hätten wesentliche Verschlechterungen zur Folge. Die Beschäftigten wären zum Beispiel nicht mehr an ihre Filiale gebunden, sondern könnten in angrenzenden oder weiter entfernten Filialen eingesetzt werden, wo gerade Bedarf besteht. Und das mehr oder weniger kurzfristig. Das bringt eine Mehrbelastung mit sich. Gleichzeitig soll die Zahl der Überstunden nicht mehr so begrenzt sein wie bisher. Wer diese neuen Arbeitsverträge nicht unterschreibt, der setzt sich der Gefahr aus, keinen Vertrag mehr zu bekommen. Im Falle eines Lagers droht die Geschäftsführung an, angedachte Investitionen nicht tätigen zu können. Die 100 Beschäftigten müssten damit rechnen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Diese Angst hat dazu geführt, dass der Betriebsrat, der dagegen war, doch zur Unterschrift rät – bevor es noch schlechter kommt.
Haben Sie für diese Informationen mit Mitarbeitern gesprochen?
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Werner Rügemer (74) ist Publizist und lehrt an der Uni
Köln im Fachbereich Humanwissenschaften.
Mit meinem Kollegen Elmar Wigand habe ich das Portal Arbeitsunrecht.de im Internet etabliert. Darüber bekommen wir neben persönlichen Gesprächen, die wir führen, auch sehr viele Berichte zugeschickt. Einige Fälle vertiefen wir. Manche veröffentlichen wir auf der Webseite.
Ist es ein Standard-Druckmittel, dem Arbeitnehmer zu sagen, er verlöre seinen Job, wenn er irgendetwas nicht tue?
Ja, man kann sagen, dass sich vor allem die mittleren und unteren Ränge einer ständigen Erpressung ausgesetzt sehen. Viele Unternehmen gehen wie selbstverständlich davon aus, dass eine bestimmte Zahl von Überstunden schon gar nicht mehr bezahlt oder erfasst wird. Diverse Betriebsräte sind vor Gericht gegangen, um das zu ändern. Denen ist es danach schlecht ergangen. Die Betriebsräte sind unterschiedlich behandelt, versetzt oder gekündigt worden.
Kann man dieses Problem des Drucks ändern, indem mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, oder kommt es eher auf größere arbeitsrechtliche Reformen an?
Die Auswahl an Arbeitsplätzen ist im Laufe der letzten 15 bis 20 Jahre ständig gesunken. Das hat viele Gründe, wie die Globalisierung und die Verlagerung in kostengünstigere Regionen. Ein Mangel an Arbeitsplätzen ist heute also eine Dauersituation und von sich aus schon ein Umstand, der die Erpressung durch die Arbeitgeber ermöglicht. Der Mehrzahl der Beschäftigten, aber auch den Arbeitslosen, bleibt so kaum eine Wahlmöglichkeit.
Wohnt die Angst dem Kapitalismus oder dem Neoliberalismus nicht inne? Eine ständige Angst, eine zu geringe Zahl im Ergebnis zu haben?
Ja, das kann man so allgemein sagen. Aus der subjektiven Sicht der Beschäftigten gibt es aber noch gewichtige Unterschiede. Wenn Sie vergleichen, wie die Arbeitsverhältnisse mit standardmäßigem Regelarbeitsplatz, unbefristet und mit 40-Stunden-Woche, bis Anfang der 90er Jahre noch die Normalität ausgemacht haben, dann hat sich das heute sehr verändert. Die Arbeitsverhältnisse durch Gesetzgebung oder unternehmerische Praxis haben sich verschlechtert. Durch die vier Hartz-Gesetze wurde staatlich nachgeholfen, dass das Prekariat zum Standard geworden ist. In den USA hat das schon in den 60er Jahren angefangen, dass es eine große Gruppe gibt, die man „Working Poor“ nennt. Das sind Menschen, die Arbeit haben, aber trotzdem unterhalb der Armutsgrenze liegen.
Macht dieser Leistungsdruck die Angestellten zusehends fertig?
Die Methoden der ständigen Leistungssteigerung sind in den letzten 20, 30 Jahren erheblich verstärkt worden. Es hat sich ein wissenschaftlicher Bereich unter dem Namen „Human Ressources“ etabliert. Durch komplizierte Verfahren wird laufend die Entwicklungsfähigkeit kontrolliert. Dadurch kann ein Prozentsatz von sogenannten „Low-Performern“ ausgemendelt werden. Dieser Druck erhöht die Angst. Es gibt Untersuchungen, nach denen sich ein größerer Teil der Beschäftigten krank zur Arbeit schleppt, weil sie annehmen, dass es schlecht aussieht, wenn sie mehr als 15 Tage im Jahr krank fehlen.
Wird auch mit der Angst von Arbeitnehmern gespielt, um ausbleibende Steuererhöhungen für Unternehmen mit möglichem Konkurs und damit dem Verlust von Arbeitsplätzen zu rechtfertigen?
So direkt sagen das Politiker heute glaube ich nicht mehr. Sie wissen, dass es da bei Millionen von Menschen brodelt. Anfang der 2000er Jahre war es die herrschende Meinung bei Ökonomen, Unternehmen steuerlich wenig zu belasten, weil der Verlust von Arbeitsplätzen drohe. Das war nicht nur die Meinung der wirtschaftsnahen Parteien, sondern wurde unter der Regierung Schröder auch von der SPD und den Grünen mitgetragen. Dann sind nicht nur verschiedene Formen des Niedriglohns eingeführt worden, sondern auch Abgaben wie die Körperschaftssteuer für die Firmen erheblich gesenkt worden. In Finanzoasen schaffen es die Unternehmen, die sowieso schon niedrigen Steuersätze noch zu umgehen.
Soll man die Steuern niedrig lassen, um den Unternehmen die Ausrede der drohenden Entlassung zu nehmen, oder soll man sie erhöhen, damit der Staat profitiert?
Nachdem man drei Jahrzehnte damit experimentiert hat, dass Unternehmen wenig Steuern zahlen sollen, hat man das Gegenteil erreicht. Je mehr man die Unternehmer von sozialen Verpflichtungen entlässt, desto mehr nehmen sie ihre Freiheiten wahr. Sie zahlen noch weniger Steuern und den Beschäftigten noch weniger Gehalt. Der Zusammenhang, Steuern für Firmen zu senken und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen, ist nirgendwo eingetreten. Das kann kurzzeitig in Einzelfällen mal so sein, aber volkswirtschaftlich hat sich das in keinem Staat als richtig erwiesen – im Gegenteil. Deswegen müssten nicht nur die Unternehmenssteuern, sondern auch die Löhne erhöht werden, gerade in den unteren Gehaltsklassen.
Also ran an die Unternehmen?
Richtig. Wir müssen in diesem Zug erwähnen, dass auch die Gegenmacht der Gewerkschaften geschwunden ist. Zum einen wurden christliche Gewerkschaften wiederbelebt, die wenige Mitglieder haben, aber geneigt sind, niedrige Tarifabschlüsse zu vereinbaren. Zum anderen ist das jahrzehntealte System der Unternehmen auf der einen und der Gewerkschaften auf der anderen Seite weitestgehend ausgehebelt worden. Die Arbeitgeber fühlen sich den Tarifgemeinschaften gar nicht mehr verpflichtet. Bestenfalls können Arbeitnehmer einen Haustarif abschließen, der die Geschäftsführung stärkt. Außerdem ist es ein Abenteuer geworden, einen Betriebsrat zu gründen. Aktivisten werden behindert. Den einen schickt man ins Ausland, dem anderen bietet man eine Beförderung an, wenn er passiv bleibt… wenn das einmal an einer Truppe durchexerziert wurde, haben die nächsten noch mehr Angst.
Gilt das gleiche für die Rettung der Banken? Wurden vermeintliche Konsequenzen heraufbeschworen, die politischen Widerstand eingedämmt haben?
Ich glaube, so traditionell eng wie in der Bundesrepublik ist die Verbindung der Regierung zu den Banken in keinem anderen Staat. Deshalb war die Rettung ein routinemäßiger Reflex. Es wurde sicherlich nicht besonders drüber nachgedacht, ob man der Bevölkerung damit Angst einjagt. Ich glaube, dass die Bundesregierung beruhigen wollte, indem sie auf eine gewisse Sicherheit verwiesen hat. Im Endeffekt sind die Menschen heute aber mehr denn je beunruhigt, wie es mit dem Finanzwesen weitergeht, wie sicher Renten und Konten sind. Das gilt auch für die diskutierte Abschaffung des Bargeldes, das für viele mehr Überwachung bedeutet.
Ist es in Deutschland ein besonderes Phänomen, eine kollektive Furcht vor der Obrigkeit zu spüren und weniger zu wagen?
Dass in der Bevölkerung als Arbeitnehmer oder Anleger große Ängste bestehen, die öffentlich nicht thematisiert werden, ist klar. Ich halte es aber für ein Klischee aus alten preußischen Zeiten, zu sagen, die Bürger hätten Angst vor dem Staat oder der Regierung. Die Angst besteht tatsächlich gegenüber der privaten Wirtschaft, gegenüber der Freiheit, die Investoren und Unternehmer haben.
Wie können wir mit sozialen Ängsten umgehen?
Wie in anderen Fällen kann die Angst immer nur dadurch überwunden werden, wenn derjenige, der Angst hat, sich austauschen kann. Die meisten Leute haben ja gar keine Plattform, um über ihre Ängste richtig zu sprechen. Das ist heute in der Bundesrepublik kaum der Fall, müsste aber gefördert werden. Dadurch würde das Selbstbewusstsein gestärkt werden. Das geht nur, wenn man sich in einem weiteren Schritt handlungsfähiger macht und sich organisiert, damit man nicht mehr alleine ist. Sonst kommt man mit seiner Angst nicht mehr zurecht.
Ist es nicht erschreckend, dass Menschen vier Jahrzehnte nach Dutschke und Co. immer noch gezwungen sind, sich zu organisieren?
Natürlich, und auch deswegen, weil sich die Gegenseite der Unternehmen, Investoren und Banken mit weiteren Instrumenten verstärkt hat. Mit meinem Kollegen habe ich untersucht, welche Berater sich Unternehmen einkaufen können. Das sind nicht nur Anwälte, sondern auch Wirtschaftsdetektive, Psychologen, Mediatoren. Auch die meinungsführenden Medien haben sich zu aggressiven Unternehmen entwickelt, die die gleichen Ziele wie private Investoren haben. Das ist eine vielfältige Macht auf der Gegenseite. Es ist rein logisch schon klar, dass man sich ebenso gut organisieren müsste, um dagegen anzukommen.
Wovor haben Sie persönlich eigentlich Angst? Auch vor materiellem Verlust?
Ich habe Angst, dass kriegerische Auseinandersetzungen ins sieben Jahrzehnte scheinbar friedliche Europa und nach Deutschland kommen. Die Aufrüstung in der Nato und der Bundesrepublik nach der Ukraine-Krise macht mir Sorgen. Innenpolitisch macht mir Angst, dass ein Frieden von Gruppen und der einschreitenden Staatsmacht gestört werden könnte. Beruflich habe ich schon länger davor Angst, dass meine Tätigkeit überwacht wird. Was das Materielle angeht, fürchte ich mich vor Rentenkürzungen oder zusätzlichen Steuern. Da kann ich mir einiges ausmalen, was auf mich oder meine erwachsenen Kinder zukommen könnte.
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www.werner-ruegemer.de | HP des Publizisten mit den Spezialgebieten Privatisierung, internationale Kapitalverhältnisse, Unternehmenskriminalität, Korruption und neoliberale Gesellschaft
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