30 Jahre ist es her, dass Pottpoet Herbert Grönemeyer sein Album „Sprünge“ herausgebracht hat. Aufgenommen hat er damals auch den Titel „Angst“: „Angst braucht Waffen, aus Angst vor dem Feind, obwohl keiner so recht weiß – wer ist damit gemeint? Angst überholt zu werden, Angst vor Konkurrenz, Angst vor der Dummheit, vor ihrer Intelligenz“, sang Grönemeyer in üblichem Sprechstakkato (ja, wir lassen Angst vor diesem Gesangsstil ebenfalls gelten). Leider müssen wir feststellen: Die Zeilen klingen heute immer noch so aktuell, sie schallern uns links und rechts um die Ohren, wenn wir sehen, wie diffuse Ängste um sich greifen.
Furcht, Schrecken, Angst – das ist ja nichts Neues in der Menschheitsgeschichte. Sie liegt Mensch und Tier im Hirn sogar mechanisch inne. Wir widmen uns diesem Aspekt ausführlicher im folgenden Artikel „Kluge Angst“. „Prinzipiell gilt: Angst ist nicht nur ein individuell-psychologisches Phänomen, sondern immer auch hochgradig sozial und gesellschaftlich vermittelt. Denn die Wahrnehmung und Deutung von Bedrohungen sind immer auch abhängig von vielfältigen Vorerfahrungen, etwa von der Erziehung und von Vorstellungen und Bildern, die in Kollektiven fortlaufend geteilt und mitgeteilt werden“, zitiert die Mittelbayerische Zeitung den Erlanger Soziologen Dr. Sebastian Büttner.
Man kann sich also von Angst anstecken lassen. Eine Form wäre die „German Angst“, die für langes Zögern und Zaudern steht, was in unserem Landstrich dann als ausgeprägt gelten würde. Ende Februar veröffentlichte die Deutsche Börse einen Artikel des Finanzexperten Thomas Grüner – nicht ohne Hinweis, dass der Text allein die Meinung des Autors wiedergebe. Grüner, Geschäftsführer eines Unternehmens für Vermögensverwaltung, warnte vor „einem guten Gefühl bei der Geldanlage“. Eine Warnung vor einem guten Gefühl – so weit sind wir schon gekommen. Die Überschrift lautete „Das Spiel mit der Angst ist wieder da!“ Das Kuriose: Im folgenden Text taucht das Wort „Angst“ überhaupt nicht mehr auf. Tatsächlich gibt Grüner Tipps, wie man sich als Anleger aus der Komfortzone bewegt und Anlagen abstößt, wenn die Stimmung gut ist, und investiert, wenn sie schlecht ist. Angst ist eben etwas, das sich in Überschriften gut verkauft - gerade im emotionalen und schnelllebigen Aktiengeschäft.
Grüner ist nicht allein in der Welt derer, die sich die Angst zum Thema machen. Das tun wir vom engels-Magazin ja hiermit auch – wenn auch auf einer Meta-Ebene. Ebenfalls im Februar berichtete das Handelsblatt über die große Unsicherheit an den Finanzmärkten, ausgelöst sei sie durch globale Krisen. „Die Ausschläge können sehr gefährlich werden“, sagt das Handelsblatt. Auch die Süddeutsche Zeitung hat sich eingeschaltet. Eine Auswahl der Begriffe aus einem Artikel über die Deutsche Bank von Anfang Februar zeigt die Richtung: Crash, dramatisch, freier Fall, zweifeln, Finanzkrise, ernst wie nie, steile Talfahrt, hilflos, Nervosität, schlimm, Ausweg, Durchhalteparolen, Sorge, Milliardenverluste, pleitegehen, Verfall. Wer hat jetzt noch Lust, Geld anzulegen?
Ob solche Banken, die durch milliardenschwere Sonderfonds am Leben gehalten werden, oder die Kapital in mittelamerikanischen Briefkästen verstecken (siehe Panama Papers), tatsächlich vor irgendetwas Angst zu haben brauchen, ist eine andere Frage. Der Schrecken wird weitergegeben, genau wie die Kosten. Nämlich an den Steuerzahler. Selbst die nicht gerade gänzlich aus Bankenfreunden bestehende taz plädierte in einem Pro-und-Contra-Artikel 2012 für die Bankenrettung, als sie auf den Panikzug aufsprang: „Theoretisch könnten die Deutschen sagen: ‚Selber schuld‘. Faktisch jedoch würden Bankenpleiten global Panik auslösen. Keiner würde keinem mehr trauen – und viele Kunden würden ihr Geld vorsorglich bei anderen Banken abziehen. Selbst gesunde Institute würden in den Bankrott treiben. Wie gefährlich dies ist, hat die erste Weltwirtschaftskrise ab 1929 gezeigt.“ Tschuuu. Nächster Halt: Armageddon.
Richtig problematisch wird es für den Otto-Normal-Bürger, wenn die Angst permanent am Köcheln gehalten wird. Einen Auszug dessen, vor dem wir uns in der letzten Zeit hätten fürchten sollen, liefert Google, wenn wir einmal den Begriff „Klima der Angst“ eingeben. Dann spuckt die Suchmaschine Dinge aus, nach deren Lesen wir besser nicht mehr vor die Türe gehen sollten. Wenn’s danach geht, sollten wir immer und zu jeder Zeit Angst haben vor: Kriminellen Clans, Flüchtlingen, Asylunterkünften, dem Islam, Neonazis, Rechtsextremen, rassistischer Gewalt, Vergewaltigungen, Pfarrern (!), brutalen Schülern, Mobbing im Unternehmen, Sicherheitswahn – sogar Streit um Windkraftanlagen soll existenzielle Ängste schüren. Dann doch lieber Grönemeyer.
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