Ist die ökologische Wende jetzt auch in der deutschen Fleischerzunft angekommen? Wenn man sich die Website der neuen „Initiative Tierwohl“ anschaut, könnte man das denken. Schöne große Bilder und Textstrecken erzählen von einer neuen Haltung in Bezug auf Tiere, verantwortungsvolle Landwirte mit glücklichem Vieh tauchen auf, Videoportraits laden in vorbildlich geführte Schweinehöfe ein. Die Botschaft dahinter: Maximale Transparenz und ein gutes Gewissen.
Alle großen Einzelhändler machen mit: Vier Cent pro Kilo verkauftem Fleisch zahlen sie in einen gemeinsamen Topf. Die Einnahmen sollen der Verbesserung der artgerechten Haltung zugutekommen. Für die Lebensmittelkonzerne steht schließlich einiges auf dem Spiel. Katastrophale Tiertransporte haben die Branche einst in Verruf gebracht. Bis heute haben die meisten Verbraucher keine besonders positive Vorstellung von den Bedingungen der Massentierhaltung.
Dass Fleisch keine so tolle Sache ist, finden inzwischen selbst viele derjenigen, die sich ab und zu dennoch gerne mal einen ordentlichen Burger gönnen. Und inzwischen haben sich auch viele Themen der Veganer herumgesprochen: Kritik am Schreddern von männlichen Küken für die Eiproduktion und am enormen Ressourcenverbrauch für Tierfutter – und natürlich das schlechte Gewissen, andere Lebewesen zu quälen oder zu töten.
Und doch lassen wir uns – und sei es nur unbewusst – gerne auf Heilsversprechen wie die „Initiative Tierwohl“ ein. Gerne nehmen wir Werbeversprechen der Lebensmittelindustrie an: denken beim Fleischeinkauf im Supermarkt an grasende Rinder vor einer herrlichen Alpenwiese, an glückliche Schweinefamilien, die sich in einem idyllischen Dorfbach suhlen und malen uns lustig gackernde Hühner aus, die jeden Morgen brav unser Frühstücksei legen.
Es reicht im Prinzip, einen kurzen Blick auf die aktuellen Lebensmittelpreise zu werfen, um zu erahnen, dass wir uns mit solchen Bildern selbst betrügen: Ein Kilo Gehacktes für ein paar Euro, ein Ei für 19 Cent. Eigentlich ist klar: Solche Preise können nur durch Massenzucht zustandekommen – Vier-Cent-Abgabe für das Tierwohl hin oder her. Nehmen wir Schweine: Sie gehören zu den intelligentesten und sensibelsten Säugetieren – trotzdem werden sie in winzigen Ställen gemästet, nur um nach ein paar Monaten Lebenszeit auf der Schlachtbank zu laden. Kaum ein Fleisch ist günstiger. Wissen wollen wir davon eher weniger. Warum eigentlich?
Vielleicht helfen zwei Zitate aus der Literatur, um dieses sogenannte Fleisch-Paradox zu verstehen. „Für die Tiere ist jeden Tag Treblinka“, klagte der jüdische Schriftsteller Isaac B. Singer einmal an. „Wenn Sie mal ein Schnitzel gegessen hätten, wären Sie nachsichtiger!“, ließ der deutsche Autor Erich Kästner zum selben Thema einen seiner Romanhelden antworten. 1932 war das. Kästner sah in einer Episode des Romans „Der 35. Mai“ die Zukunft der vollautomatisierten Fleischproduktion bereits damals ziemlich genau voraus.
Vermutlich fühlen sich auch heute noch die meisten mit dem zweiten Zitat deutlich wohler. Denn beim Essen geht es um ein wesentliches Stück Lebensqualität. Dazu ist gutes Essen ein wichtiger Identifikationsfaktor des modernen Großstadtmenschen – Food ist das neue Fashion. Der wahre Gourmet, heißt es, isst sowieso Fleisch. Wollen wir uns unseren hart erarbeiteten Genuss wirklich von miesepetrigen Veganern verderben? Und wenn: Kann es das politisch korrekte Essen überhaupt geben?
Auch wenn Veganer beteuern: Auch ohne Tierprodukte kann man genießen. Richtig überzeugend kommen sie dabei außerhalb ihrer eigenen Fangemeinde nicht rüber. Und auch die derzeit von der Wissenschaft ins Feld geführten Zukunftsalternativen zu klassischen Fleisch- und Milchprodukten klingen erst einmal gewöhnungsbedürftig. Über Riegel aus Insektenfleisch wird da nachgedacht. Oder über Fleisch, dass in der Petrischale aus Muskelfasern von selbst gedeiht. Ohne das Schlachten eines einzigen Tiers.
Oder ist da vielleicht wirklich ein Hoffnungsschimmer zu erkennen? Was wir als Delikatesse verstehen, hängt stark von unserer kulturellen Prägung ab. In China essen sie schließlich auch Hunde. Angenommen es gelingt, nicht tierisches Essen auch außerhalb der Öko-Elite sexy werden zu lassen: Die Fast-Food-Bude um die Ecke hätte dann selbstverständlich panierte Sojaschnitzel, im Programm des heimischen Grillfests wäre nicht mehr das Barbecueschnitzel, sondern die größte Kartoffel das Maß aller Dinge. Dann würden vielleicht bald wirklich viel weniger Tiere leiden. Und den Menschen täte dieser Verzicht noch nicht einmal weh.
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vebu.de | Deutschlands größte Interessenvertretung für vegan und vegetarisch lebende Menschen
sentience-politics.org/de/politik/massentierhaltung | Schweizer Volksinitiative zur Abschaffung der Massentierhaltung
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