Der Dirigent, Komponist und Pianist Patrick Hahn ist der jüngste Generalmusikdirektor im deutschsprachigen Raum. Im September legt er in Wuppertal mit Sinfoniekonzerten los und bereitet für März 2022 die Wagner-Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ vor.
engels: Herr Hahn, warum spielt in der Kunstbetrachtung immer wieder Alter und Geschlecht eine Rolle? Das Kunstwerk ist sich doch selbst genug, oder?
Patrick Hahn: Die Menschheit ist eine subjektiv empfindende. Viele Attribute, die eigentlich zur Kunst wenig beitragen, haben einen gewissen Stellenwert erlangt, den sie eigentlich nicht haben sollten. Herkunft und Namen gehören dazu. Man merkt das bei allen Formen von Kunst. Wenn ein modernes Kunstwerk oder eine moderne Komposition von jemand ganz Berühmten stammt, dann wird es mit viel mehr Interesse und Wohlwollen aufgenommen, als wenn das von jemand ist, den man nicht kennt. Wenn man genau dasselbe Kunstwerk mit einem Namen untertitelt, den niemand kennt, wird es viel weniger Beachtung finden als mit einem berühmten Namen – dazu gibt es Studien und Experimente. In meinem konkreten Fall kann man nicht behaupten, dass mein Alter eine wirkliche Rolle vor dem Orchester spielt. Also ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Orchester natürlich Neugierde zeigen und schauen, bringt er das wirklich, was man von ihm sagt – der ist ja noch so jung? Aber wenn man die Leistung bringt, dann ist den Orchestern, wenn sie denn auch selbst Vollprofis sind, herzlich egal, ob der jung oder alt oder sonst irgendwas ist. Dann läuft das über die Musik. Das funktioniert besser, je mehr die Orchester mit sich selbst im Reinen sind. Die einzigen schwierigen Momente habe ich mit Menschen erlebt, die eigentlich nicht zufrieden mit sich selbst waren, die immer meinten, sie müssten eigentlich bei den Wiener Philharmonikern Konzertmeister sein.
„Ein halber Verwaltungsjob ist es gottseidank nicht“
Zwischen Pult und einem halben Verwaltungsjob liegen eigentlich Welten. Warum diese Aufgabe im Bergischen Land?
Ein halber Verwaltungsjob ist es gottseidank nicht. Ich habe ja noch den Orchesterdirektor, den Intendanten und Geschäftsführer und so weiter. Deren Hauptaufgaben liegen hauptsächlich in diesen Bereichen. Natürlich bringt diese Generalmusikdirektoren-Stelle schon deutlich mehr nicht-künstlerische Arbeit mit sich, als wenn ich weiterhin nur hier und da gastiert hätte und frei geblieben wäre. Aber es ist ja auch etwas sehr Schönes, wenn man langfristig etwas begleitet und etwas aufbaut oder weiterentwickelt. Das geht einfach nicht ohne gewisse Einbußen. Das habe ich schon vor Amtsantritt gemerkt, in Zoom-Meetings und auch Präsenzgesprächen, dass da viele Aufgaben auf mich zu kommen, die nicht künstlerisch sind.
Nun wird es in Wuppertal ja auch Musiktheater, also Oper geben – das muss man auch können und die Inszenierungen auch ertragen müssen?
Richtig, aber es ist ja auch ein Miteinander. Wir engagieren Regisseur*innen, die wir uns aussuchen. Natürlich kann ich im Vorfeld nie hundertprozentig wissen, ob das meinen Vorstellungen entspricht. Aber umgekehrt können sie das auch nicht, können auch unzufrieden mit der Musik sein. Aber es ist ja ein Prozess, an dem man gemeinsam arbeitet. Es kommt vor, dass man sich irgendwo mal verkracht oder aneinander vorbeiarbeitet, was nicht schön ist, weil dann auch das Ergebnis entsprechend unbefriedigend ist. Ich denke aber, wenn man offen kommuniziert, Probleme offen anspricht und im gegenseitigen Einvernehmen zu lösen versucht, dann kann es eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Dirigenten und Regisseur*in werden. Es kommt vor, dass die Regie Sachen möchte, die aus musikalischer Sicht ungünstig sind, was vielleicht Positionierungen auf der Bühne angeht oder auch akrobatische Aktionen von Sänger*innen, die sich eigentlich gerade aufs Singen konzentrieren sollten. Wenn man da nicht offen und konstruktiv zusammenarbeitet, kann das schon nach hinten losgehen. Da mache ich mir aber keine großen Sorgen.
Wird es auch Neue Musik im Programm geben?
Wird es. Ich habe ein großes Faible vor allem für Musik des späten 20. Jahrhunderts entwickelt. Uraufführungen sind mit dem Sinfonieorchester nächste Spielzeit zwar nicht geplant, aber sehr viel zeitgenössische Musik. Immer wieder Stücke aus dem 20. Jahrhundert, die durchaus als modern zu bezeichnen sind.
Auch Patrick Hahn mit Georg Kreisler allein am Klavier?
Das wird es tatsächlich auch geben, aber außerhalb des Sinfonieorchesters.
„Wuppertal hat ja eine große Wagner-Tradition“
Warum zum Start ausgerechnet Wagners Sängerkrieg auf der Wartburg?
Das ist ja mein Start, nicht der Start der Saison. Opernintendant Berthold Schneider hatte die Idee und ich habe diese Idee wohlwollend aufgenommen, war da gerne bereit, weil ich das Stück „Tannhäuser“toll finde. Das war also ein gegenseitiger Wunsch, weil es auch zeitlich passt, denn es wurde in Wuppertal lange nicht mehr gemacht und Wuppertal hat ja eine große Wagner-Tradition, an die wir anknüpfen möchten.
Ist der Stoff – was zumindest den Inhalt betrifft – überhaupt noch zeitgemäß?
Natürlich ist das zeitgemäß. Unglaublich zeitgemäß. Da ist im Stück jemand, der quasi zweimal ausgestoßen wird, weil das, was er getan hat, vom Rest der Gesellschaft als verachtenswert empfunden wird. Der im generellen Sinne eine freiere Ausdeutung der Liebe lebt, statt mit einer Person enthaltsam. Das ist absolut zeitgemäß und je nachdem, wie man es inszeniert, kann man die Figuren natürlich in veraltete Museumsjacken stecken, aber man kann das auch auf die heutige Zeit auslegen, ohne dass man da viele Sachen umändern muss. Weil die Geschichte es hergibt, dass sie auch in der heutigen Zeit aktuell ist.
Wie wichtig ist heute die inszenierte individuelle Geste, das Schlagen für einen Dirigenten? Geht das bis zur Heroisierung bei Karajan? Macht man sich da Gedanken darüber?
Also ich glaube nicht, dass man sich Gedanken darüber macht – ich mache mir keine. Ich glaube auch, dass sich all diese Leute – vielleicht mit Ausnahme vonKarajan – die man heute an ihrem Schlag erkennt, dass die sich auch keine Gedanken darüber machen. Wenn man Gergiev sieht, dann erkennt man sofort, dass er es ist. Aber ich glaube nicht, dass er denkt, er muss jetzt möglichst viele kleine Bewegungen machen, einen Zahnstocher in die Hand nehmen, damit er wiedererkennbar wird. Das haben die Leute nicht nötig. Dass Karajan besonders eitel war, dass er Wert darauf legte, wie die Kameras ihn einfingen, das ist bekannt und das sei ihm ja unbenommen. Ich glaube auch, dass sich diese Zeichensprache verändert und dass sie Teil eines organischen Prozesses ist, weil sich ja auch die Physis eines Menschen ändert. Gergiev hat früher anders dirigiert als er jetzt dirigiert. Die Musik hat sich aber nicht geändert – er kann ja nach wie vor unglaublich tolle Musik generieren und mit den Menschen arbeiten. Sein Schlagbild hat sich verändert.
Ich habe mich das aus der Theaterperspektive gefragt. Das Publikum sitzt im Konzert oder in der Oper und sieht als den Einzigen, der nicht inszeniert ist, den Dirigenten.
Aber wer sich ans Pult stellt und denkt, er muss fürs Publikum eine Show abliefern, der hat den falschen Job. Das gibt es natürlich auch, aber das wird vom Orchester sofort erkannt und das meinte ich schon bei der allerersten Frage: Das Orchester merkt sofort, ob da jemand eine Show abzieht oder versucht, eine Bewegung zu kopieren, weil sie nett ausschaut. Aber der wird vom Orchester sofort zerrissen.
Letzte Frage: Wer wird Fußball-Europameister?
Fußball interessiert mich nur peripher. Es macht mir auch Spaß, wenn ich so was mit Freunden schaue, aber zuhause alleine fiebere ich nicht wirklich mit.
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