Tocotronic haben mit dem unbetitelten „roten Album“ demonstrativ ein Popalbum vorgelegt. Weniger Schrammelpop und Gitarrenwände, stattdessen eine klare Produktion mit Synthie, Background Chor und gesanglichen Manierismen wie „Ich ö-ö-öffne mich für uns“. Denn textlich gehen sie auch voll in der Subjektivität amouröser Poplyrik auf. Das ist mit Geigen und allem Pipapo teils großartig, mitunter aber auch ein Fall für die Kategorie guilty pleasure (Universal). Zum 25-jährigen Bandjubiläum erscheint außerdem die mit über 1000 Abbildungen reich bebilderte Bandgeschichte „Tocotronic Chroniken“, laut Verlag in enger Zusammenarbeit mit der Band entstanden (Blumenbar). Elf Jahre nach dem letzten Album erscheint „Sol Invictus“ von den reunierten Faith No More. Schwierig, so etwas zeittypisches wie den Crossover-Entwurf von FNM in die Gegenwart zu retten. Doch sie knüpfen natürlich nicht an den schmierigen Pathos-Metal der frühen Jahre an, sondern eher an das letzte Album bzw. die Weiterentwicklung der einzelnen Musiker, allen voran Sänger Mike Patton. Und das ist dann trotz einigem Zeitkolorit durchaus in der Gegenwart hörbar (Reclamation).
Der superjunge Shamir aus Las Vegas erinnert mit seinem hippen, explizit schwulen Disco-House-Entwurf an Hercules & Love Affair, und seine prä-pubertäre Stimme bringt den androgynen Touch des Ganzen wundervoll auf den Punkt. Wird sicher noch groß (XL). Midlife-Krise, was beweisen wollen, oder einfach gut drauf? Squarepusher macht mit „Damogen Furies“ eine überbordend verschachtelte elektronische Schlachtplatte, die gleichermaßen brutal und böse wie poppig ist, und … Verzeihung … damit manchmal fast nach Skrillex klingt. Aber all das, was einen Skrillex links liegen lässt, lässt Squarepusher weg, so dass man Squarepusher dann doch nicht links liegen lassen muss (Warp).
Charlemagne Palestine, Jahrgang ’45, zählt zu den bedeutenden Minimal-Komponisten, auch wenn sein Name nicht so bekannt ist wie der von Steve Reich, Terry Riley oder Philip Glass. Das neue Album des extrovertierten Musikers und Installationskünstlers heißt „Ssingggg Sschlllingg Sshpppingg“ und schwillt über eine knappe Stunde langsam immer mehr an – vom ethnischen Gesang über White Noise mit Field-Recordings bis zu einer Geräuschkakophonie mit menschlichem Antlitz von allergrößtem Reichtum (Idiosyncratics). Zusammen mit dem Post-Minimalisten Rhys Chatham veröffentlicht er zeitgleich das Werk „Youuu + Mee = Weee“, das drei einstündige Stücke auf 3 CDs vereint, die mit ihren organisch an- und abschwellenden Instrumenten klassischer wirken (Sub Rosa). Wer sich für Minimal Music interessiert, sollte auch in die Steve Reich-Interpretationen des Leipziger Ensemble Avantgarde reinhören, die mit „Four Organs“, „Phase Patterns“ und „Pendulum Music“ drei frühe Werke des Komponisten aus den Jahren ’68-’70 eingespielt haben, die mit rhythmischen Verschiebungen arbeiten. Vinyl mit Downloadcode (Karlrecords).
Betrug: Nachdem Thurston Moore seine Frau und Bandkollegin Kim Gordon klassisch mit einer Jüngeren betrogen hat, ist das Ende der Indie-Legende Sonic Youth im Jahr 2011 besiegelt und deren Funktion als Rolemodel angekratzt. In ihrer Autobiografie „Girl in a Band“ rekapituliert Gordon spürbar enttäuscht und wütend ihr Leben als selbstbestimmte Künstlerin und Musikerin, Ehefrau und Mutter, die trotz aller Bemühungen um Unabhängigkeit immer wieder schmerzvoll gegen die patriarchalen Strukturen prallt. Ein bisschen Wunden lecken, wenig Nabelschau, etwas Kunst, viel Gesellschaft(spolitik) und ganz viel Sonic Youth (KiWi).
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