Ich werde warten. Auf was denn nur? Was sehe ich da? Wüste. Ein Mäuerchen, ein Bett, eine Leiche? Roberto Ciulli inszeniert in Mülheim Bernard-Marie Koltès‘ Stück „Rückkehr in die Wüste“. Aber das Stück spielt doch in Frankreich. Der Muezzin ruft. Also doch nicht. Noch vor der eigentlichen Handlung im französischen Sandkasten von Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben spielt Ciulli die nebulöse Verschleierungskarte. Mathilde Serpenoise kehrt aus Algerien heim. In ein Zuhause, aus dem ihr Bruder Adrien sie einst vertrieben hat, um sich die Fabrik des Vaters zu sichern und das Elternhaus, das eigentlich Mathilde gehört, besetzen zu können. Schon ihre erste Wiederbegegnung strotzt vor kindlichen Spielen. Mit Boshaftigkeiten, Freude, Angst und Tricksereien umgarnen sie sich, sie will Rache, er eigentlich nur seine Ruhe, gut für ihn, eine Claire Zachanassian à la Dürrenmatt ist Mathilde glücklicherweise nicht.
Dafür geistert die Fremdenfeindlichkeit fröhlich weiter durch das Traumland der Franzosen mit ihren grandiosen Landstrichen, um die sie die ganze Welt beneidet. Die Kolonien der Grande Nation sind immer noch welche, Sehnsuchtsorte, die man verloren hat, wie man als Kind im Sandkasten sein Spielzeug nicht mehr finden kann, weil man es vergraben hat. Die Leiche ist gar keine, es ist Aziz, der Hausangestellte, Boy für alle Fälle und doch undurchsichtig freundlich. Böse schauen nur die Hausbewohner, wenn sich der Lautsprecher auf dem Minarett meldet. Kinder, wie die Zeit vergeht! Klar, Kinder haben die anderen Serpenoises natürlich auch. Adrien hat einen Sohn, ganz im Sinne des Vaters erzogen: Züchtigung vor Lehrinhalten, hier und da gibt s mal ein Backpfeife oder Körperertüchtigung.
Die Figur, sicher autobiografisch – Koltès wuchs mit seinem Nationalistenvater auch nicht gerade im arabischen Viertel von Metz auf – befreit sich letztendlich vor den sadistischen Angriffen seines Vaters durch den tödlichen Einsatz in Algerien. Ob er wirklich wie gewünscht starb „mit schönen Sätzen auf den Lippen“, erfährt der Zuschauer natürlich nicht. Die Kinder von Mathilde sind ebenfalls von der Zeit geschädigt. Édouard, ein krimineller Freigeist und Fatima, ein freier Geist in ihrem eigenen Traumland, müssen in der Enge des neuen Heims nicht lange zurechtkommen. Ihre unsichtbare Schulranzen tragenden Eltern bekriegen sich hin und her. Wer Vater oder Väter der beiden ist, erfährt man glücklicherweise nicht, Inzest als Lösung aller Probleme huscht flüchtig durch den Raum, (auch mit dem intonierten Chanson „J'attendrai“: Komm zurück, ich warte auf Dich) doch die Wüste verbirgt eben immer alles, wenn kein Sturm den Sand verbläst und soweit kommen die Geschwistereltern eben nie.
Ciulli inszeniert den Strudel der Ereignisse mit schöner bleierner Langsamkeit. Fatima sieht die erste Frau ihres Onkels, die aber auch nur nebulöse Andeutungen macht, während die Dekadenz des Fabrikbesitzers den Sandkasten füllt. Die geschlossene Gesellschaft steuert nicht auf Höhepunkt hin, wenn auch schon mal ein farbiger GI vom Himmel fällt (eine Anspielung auf die Befreiung von Metz 1944 durch die Amerikaner), der später wohl final Fatima schwängert und so die Geschwister Mathilde und Adrien gemeinsam aus der Heimat vertreibt. Aber: Schwarze Enkel waren wohl das letzte, was sich der aufrechte Franzose in den 1960er Jahren gewünscht hätte. Aber soweit ist es ja noch nicht, erst einmal planen die aufrechten Rechten einen Bombenanschlag auf ein Café mitten in Metz, dass in der Regel von Arabern besucht wird. Dumm nur dass auch Édouard damit in die Luft fliegt. Die böse Farce, die Koltès im Sinn hatte, obwohl er immer mit „Ich glaube, meine Stücke sind viel komischer, als sie inszeniert werden” zitiert wird, wird in Ciullis Traumlandschaft zu magisch, zu sehr fröhliche Hölle. Der Sandkasten als Austragungsort von Kinderspielen, als Anschauungsmodell kriegerischer Auseinandersetzungen hat eben viele Konnotationen, und manchmal sind dort auch Pistolen vergraben. Das sind dennoch sehenswerte zwei Stunden im Theater an der Ruhr.
„Rückkehr in die Wüste“ | Fr. 2.10., Sa 24.10. (Diskussion im Anschluss), Sa 31.10. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 5 99 01 88
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Zwischenzeit als Zwischenspiel
Ruhrtriennale vom Konflikt um Stefanie Carp erschüttert – Theater in NRW 09/18
Der zweifelhafte Charme des Verfalls
Die Orangerie in Köln wird endlich generalsaniert – Theater in NRW 02/18
Die Ufa und die Nibelungen
Chefdramaturg Thomas Laue verlässt das Kölner Schauspiel – Theater in NRW 05/17
Die Zufriedengestellten
Der Bühnenverein outet sich als Arbeitgeberverband – Theater in NRW 07/16
Knisternde Luft
Theater Hagen unter neuem Spardruck – Theater in NRW 12/15
Laxer Umgang mit dem Erbe
Über Bauprojekte in Köln und Bonn – Theater in NRW 07/15
ver.di’s Arroganz der Macht
Gewerkschaften kämpfen im Theater um Einfluss – Theater in NRW 06/15
„Es geht auch darum, wer der Stärkere ist“
Regisseur Peter Wallgram über „Monte Rosa“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 11/24
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
Jack the Ripper im Opernhaus
Ausblick auf die Spielzeit der Wuppertaler Bühnen – Bühne 05/24
Richtig durchgestartet
Der Wuppertaler Verein Insel – Porträt 05/24
Ethel Smyth und Arnold Schönberg verzahnt
„Erwartung / Der Wald“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 05/24