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Das geht entschieden zu weit. Befreien ja, aber Enkel? Niemals.
Foto: Joachim Schmitz

Sandkasten der niederen Instinkte

24. September 2015

Traumland Faschismus. Roberto Ciulli inszeniert in Mülheim Bernard-Marie Koltès‘ Stück „Rückkehr in die Wüste“ – Auftritt 10/15

Ich werde warten. Auf was denn nur? Was sehe ich da? Wüste. Ein Mäuerchen, ein Bett, eine Leiche? Roberto Ciulli inszeniert in Mülheim Bernard-Marie Koltès‘ Stück „Rückkehr in die Wüste“. Aber das Stück spielt doch in Frankreich. Der Muezzin ruft. Also doch nicht. Noch vor der eigentlichen Handlung im französischen Sandkasten von Bühnenbildner Gralf-Edzard Habben spielt Ciulli die nebulöse Verschleierungskarte. Mathilde Serpenoise kehrt aus Algerien heim. In ein Zuhause, aus dem ihr Bruder Adrien sie einst vertrieben hat, um sich die Fabrik des Vaters zu sichern und das Elternhaus, das eigentlich Mathilde gehört, besetzen zu können. Schon ihre erste Wiederbegegnung strotzt vor kindlichen Spielen. Mit Boshaftigkeiten, Freude, Angst und Tricksereien umgarnen sie sich, sie will Rache, er eigentlich nur seine Ruhe, gut für ihn, eine Claire Zachanassian à la Dürrenmatt ist Mathilde glücklicherweise nicht.

Dafür geistert die Fremdenfeindlichkeit fröhlich weiter durch das Traumland der Franzosen mit ihren grandiosen Landstrichen, um die sie die ganze Welt beneidet. Die Kolonien der Grande Nation sind immer noch welche, Sehnsuchtsorte, die man verloren hat, wie man als Kind im Sandkasten sein Spielzeug nicht mehr finden kann, weil man es vergraben hat. Die Leiche ist gar keine, es ist Aziz, der Hausangestellte, Boy für alle Fälle und doch undurchsichtig freundlich. Böse schauen nur die Hausbewohner, wenn sich der Lautsprecher auf dem Minarett meldet. Kinder, wie die Zeit vergeht! Klar, Kinder haben die anderen Serpenoises natürlich auch. Adrien hat einen Sohn, ganz im Sinne des Vaters erzogen: Züchtigung vor Lehrinhalten, hier und da gibt s mal ein Backpfeife oder Körperertüchtigung.

Die Figur, sicher autobiografisch – Koltès wuchs mit seinem Nationalistenvater auch nicht gerade im arabischen Viertel von Metz auf – befreit sich letztendlich vor den sadistischen Angriffen seines Vaters durch den tödlichen Einsatz in Algerien. Ob er wirklich wie gewünscht starb „mit schönen Sätzen auf den Lippen“, erfährt der Zuschauer natürlich nicht. Die Kinder von Mathilde sind ebenfalls von der Zeit geschädigt. Édouard, ein krimineller Freigeist und Fatima, ein freier Geist in ihrem eigenen Traumland, müssen in der Enge des neuen Heims nicht lange zurechtkommen. Ihre unsichtbare Schulranzen tragenden Eltern bekriegen sich hin und her. Wer Vater oder Väter der beiden ist, erfährt man glücklicherweise nicht, Inzest als Lösung aller Probleme huscht flüchtig durch den Raum, (auch mit dem intonierten Chanson J'attendrai: Komm zurück, ich warte auf Dich) doch die Wüste verbirgt eben immer alles, wenn kein Sturm den Sand verbläst und soweit kommen die Geschwistereltern eben nie.

Ciulli inszeniert den Strudel der Ereignisse mit schöner bleierner Langsamkeit. Fatima sieht die erste Frau ihres Onkels, die aber auch nur nebulöse Andeutungen macht, während die Dekadenz des Fabrikbesitzers den Sandkasten füllt. Die geschlossene Gesellschaft steuert nicht auf Höhepunkt hin, wenn auch schon mal ein farbiger GI vom Himmel fällt (eine Anspielung auf die Befreiung von Metz 1944 durch die Amerikaner), der später wohl final Fatima schwängert und so die Geschwister Mathilde und Adrien gemeinsam aus der Heimat vertreibt. Aber: Schwarze Enkel waren wohl das letzte, was sich der aufrechte Franzose in den 1960er Jahren gewünscht hätte. Aber soweit ist es ja noch nicht, erst einmal planen die aufrechten Rechten einen Bombenanschlag auf ein Café mitten in Metz, dass in der Regel von Arabern besucht wird. Dumm nur dass auch Édouard damit in die Luft fliegt. Die böse Farce, die Koltès im Sinn hatte, obwohl er immer mit „Ich glaube, meine Stücke sind viel komischer, als sie inszeniert werden” zitiert wird, wird in Ciullis Traumlandschaft zu magisch, zu sehr fröhliche Hölle. Der Sandkasten als Austragungsort von Kinderspielen, als Anschauungsmodell kriegerischer Auseinandersetzungen hat eben viele Konnotationen, und manchmal sind dort auch Pistolen vergraben. Das sind dennoch sehenswerte zwei Stunden im Theater an der Ruhr.

„Rückkehr in die Wüste“ | Fr. 2.10., Sa 24.10. (Diskussion im Anschluss), Sa 31.10. 19.30 Uhr | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 5 99 01 88

PETER ORTMANN

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