engels: Herr Maurer, August Strindberg hat in einem Zeitungsartikel mal behauptet, Frauen seien minderwertig, außerdem lehnte er den Feminismus seiner Zeit ab. Warum inszeniert man im 21. Jahrhundert noch sein „Fräulein Julie“?
Stefan Maurer: Strindberg ist ein Autor der absoluten Widersprüche, und er hat immer extreme Dinge rausgehauen. Er hatte eine extrem kommunistische, eine extrem gläubige und eine ungläubige Phase. Wenn er zum Beispiel in einem autobiografischen Roman solche Dinge behauptet hat, und im nächsten Moment stand da eine Liebeserklärung an die Frauen, dann hat ihn dieser Widerspruch überhaupt nicht geschert. Manchmal sagt er eben auf der nächsten oder bereits auf derselben Seite das genaue Gegenteil. Insofern ist die Widersprüchlichkeit bei Strindberg zentral, er ist ein Autor der Krise. Ich selbst hatte Strindberg aktuell auch gar nicht auf dem Schirm, und dann kamen tatsächlich zwei Theater auf mich zu und ich musste mich deshalb mit ihm beschäftigen. Ich habe dann verstanden, warum er jetzt wieder auftaucht. In den 1990er Jahren war er super beliebt, wurde überall gespielt – und plötzlich ist er wieder da. Das liegt daran, weil er keine Antworten hat. Er war vielleicht selbst auf der Suche nach der Mitte und er hatte selbst immer ganz starke Partnerinnen, er hätte sich ja auch schwache Partnerinnen suchen können.
Was ist der Kern der Geschichte, die Standesunterschiede?
Nein, nicht nur die Standesunterschiede, es ist eher noch schärfer gezogen zwischen arm/reich. Arm/reich ist immer ein Thema bei Strindberg, weil er eine arme Mutter und einen reichen Vater hatte. Deswegen ging auch ein Riss durch ihn. Thema ist auch die Frage nach Liebe. Gibt es sie oder ist das nur eine Egobestätigung. Narzissmus ist ja heute ein Modewort, vielleicht ist auch deshalb Strindberg wieder im Kommen. Er hatte, obwohl die Psychoanalyse noch gar nicht existierte, Psychologievorlesungen bei dem Lehrer von Freud in Wien besucht und war da an der Thematik irgendwie dran, aber die ganze Begrifflichkeit gab es natürlich noch nicht. Ich habe jetzt „Der Pelikan“ inszeniert, und da war es wirklich so wie das gröbste Muster einer dysfunktionalen Familie, weil in der Mitte eine Narzisstin sitzt. Insofern ist diese Frage des Kampfs um die Liebe tatsächlich eine Selbstbespiegelung, ein Durchgehen von verschiedenen Identitätsmöglichkeiten. Die spielen das ja alles durch, immer wieder, und das ist ja nicht nur arm/reich, Herr oder Knecht oder die wilde romantische Flucht oder plötzlich das kleine Glück. Die Frage: Gibt es den anderen tatsächlich oder ist er nur ein Spiegel für mich? Dieses Hin- und Herspringen ist diese Mittsommernachtsgeschichte, dieser Ausnahmezustand, in dem das stattfindet, was man im Deutschen mit Karneval vielleicht irgendwie fassen kann. Selbstbespiegelung, Liebe kontra Ego. Ich finde, die Strindberg-Texte sind archaische Texte der Moderne, unserer Moderne, die ja zu seiner Zeit begann.
Könnte das Stück auch eine Antwort auf Henrik Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ gewesen sein, das zehn Jahre früher geschrieben wurde?
Ja, da ist das nächste Widerspruchspaar. Natürlich hat Strindberg Ibsen als den großen skandinavischen Konkurrenten betrachtet, immer dagegen geschossen, und er hat eine ganze Thesensammlung herausgebracht, die er „Ein Puppenheim“ nannte. Bei Fräulein Julie ist es dieses Abarbeiten an der Sehnsucht nach einem starken Partner und gleichzeitig diese Wut. Strindberg hat sich auf jeden Fall an „Nora“ abgearbeitet, und er hat sich an Ibsen abgearbeitet. Und – Strindberg hat diese Widersprüchlichkeit auch durch sein Leben gezogen. Er hat auch gemalt, er hat fotografiert, und er hat versucht, Gold zu gewinnen und mit Drogen experimentiert. Aber er hat vor allem immer gesagt, wenn er den nächsten Misserfolg landete, oder auf die Nase bekommen hatte, er schreibe nie mehr einen Satz, er male nur noch, doch dann wurde das irgendwie als Schmiererei, als entartet oder was sonst noch bezeichnet, und sofort hieß es dann, er male nie wieder, er mache nur noch Gold oder Fotos. Also ist er auch radikal immer gegen sich selber vorgegangen.
Eigentlich hat Strindberg ja ausführliche Regieanweisungen in seinen naturalistischen Trauerspielen formuliert. Nimmt man das nur wahr oder hat das heute noch eine Bedeutung?
Das nimmt man wahr als poetische Beschreibung von etwas. Das naturalistische Trauerspiel hat in stummen Szenen auch einen Hyperrealismus gehabt, mehr nur als poetisches Bild, um zu begreifen, dass da eine Leerstelle ist. Also man nimmt es wahr, aber es ist nicht der Plan, das wie das da steht umzusetzen.
Es gibt also kein Ballett in der Mitte.
Das Ballett nein, aber es ist eine von den Leerstellen. Tatsächlich. Es gibt die Pantomime, es gibt das Ballett. Ich werde schon schauen, wie ich das beantworte, aber nicht so wie es dasteht.
Das Spiel um Liebe und Macht findet heute eher im pseudorealen Fernsehen statt. Die Geschlechterrollen scheinen sich nicht komplett verändert zu haben. Warum haben die Menschen Spaß an solchen Geschichten?
Jede Generation, wenn sie groß wird, muss sich auf‘s Neue damit auseinandersetzen. Man muss selber mit der Identität klarkommen. Ob man sie abgrenzt oder ob man damit spielerisch umgeht, das muss jeder für sich selbst aufs Neue finden.
Die sogenannten „Tradwives“ im Netz wollen wieder an den Herd. Liegt das am wiederaufkeimenden Nationalismus?
Ja. Da gibt es alle möglichen Spielformen auch an Reaktionen. Man sagt ja nicht umsonst reaktionär.
Fräulein Julie | 26. (P), 27.4., 9., 11., 30.5., 14.6. | Theater am Engelsgarten | 0202 563 76 66
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