Was ist überhaupt ein Tanzfilm? Anders gefragt: Woran mag es liegen, dass es heute dieses Genre gibt, aber kaum ein ähnliches Interesse, andere performative Künste auf die Leinwand zu bringen – so etwas wie Theater-Film? Nicht nur für solche Klärungen gab es Gelegenheit beim Festival Tanzrauschen in Wuppertal.
Zur damit 15. Ausgabe von dancescreen, das als weltweit wichtigster Tanzfilmwettbewerb gilt, waren rund 200 Beiträge aus über 30 Ländern eingereicht worden. Am Ende sollte eine internationale Jury die Sieger küren. Der französische Beitrag „The Great Ghosts“ wurde dabei als bester Film ausgezeichnet.
Vier Tage sehr unterschiedliche Formen cineastischer Bewegung und, wie ja eigentlich bei jedem Festival, die Chance, sich auch neugierig-fachfremd treiben zu lassen – hier auch zwischen dem Rex Cinema und den weiteren Spielstätten, wie dem Schauspielhaus, dem Loch oder auch der Tanzschule Urban Art Complex.
Vielleicht ist Tanz auch deshalb filmtauglich, weil er so artifiziell ist – und zwar so gut wie unübersehbar, im Gegensatz zum Schauspiel. Einfach deshalb, weil seine Bewegungen nicht alltäglich sind und gar nicht versuchen, so zu wirken, im Gegenteil. Dezidiert auf Distanz zu einer realistischen Sicht ging es denn auch allenthalben, so vielfältig das im Einzelnen aussah: Kurzfilme wie „Orange Magpies“ oder „Humana“ folgten im Filmblock „Powerful“ am Freitag im Rex gleich aufeinander, zeigten den Tanzfilm dabei in sehr unterschiedlichen Varianten.
„Orange Magpies“, von Evann Siebens, mutete an wie ein Videoclip, in dem TänzerInnen in Gefängnisoveralls sich zu treibenden Radiohead-Rhythmen in der Landschaft von Vancouver die größtmögliche Freiheit nehmen. Denkbar nahe heran an mathematische Muster kam die Optik in „Humana“ von Daniel Ruby und Paulina Rutman, wo die Tänzerin Natalia Garcia in Serie die Bewegung einer Spinne imitierte; die Bildfläche wurde zum Raster aus sechzehn synchron laufenden Filmspuren. Als Kampf zwischen Technik und Mensch mochte sich „The Big Race“ von John T. Williams sehen lassen, wobei der Beitrag schon in puncto Skurrilität genug Schauwert abgab: Hase und Schildkröte liefern sich ein Rennen, und drei sinistre Raben, elegante Tänzerinnen vor einer Leinwand-Kröte, haben offenbar ihre Schnäbel im Spiel.
Allerdings: Allein dieser Block gab da nur einen Ausschnitt des Spektrums, der das Künstliche auf die Spitze trieb. Denn die sieben Shorts der Kategorie Animation waren einem hierfür einschlägigen Thema gewidmet: dem Verhältnis von Technik, Umwelt und Alltag. Und der Block schloss mit einem Dokumentarfilm über den Künstler Shiro Takatani, vielsagender Titel: „Between Nature and Technology“. Galt die oben erwogene These „Tanzfilm heißt artifiziell“ generell?
Um das Genre breiter zu erfassen, konnte man dann einfach bleiben: Gleich im Anschluss zeigte im Rex der Abendblock die Shorts-Reihe „Live Now“. Hier bot dann etwa „Reach“ von Billy Boyd Cape eine gleichfalls hochästhetische Spielart mit intensiver Körperlichkeit, die eine Geschichte erzählte: Es war der Weg eines Vaters durch den Wald mit immer wieder quergeschalteten, surrealen Tanzeinlagen, die sein Verhältnis zum Kind spiegelten. Und „Phase_001“ von Tsveta Doycheva kombinierte in einer verlassenen Turnhalle den Tanz-Fokus auf Bewegung mit cineastischen Mitteln und schuf so eine Atmosphäre aus Aktion, Sound und Kameraführung. Besonders vielsagend zum Tanzfilm überhaupt, zur Beziehung zwischen Live-Performance und Film-Gestaltung kam zuvor aber aus dem „Powerful“-Block der Beitrag von Charlotte Nies und Nelly Corsten daher: „Balance, Or How To Attune Spaces“ brachte eine Tänzerin auf einer sonst leeren Bühne in spannende Interaktion mit einem virtuellen Element – und machte das Spannungsfeld so selbst zum Thema.
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