Versuchen wir mal eine kleine Abstimmung unter Ihnen, verehrte Leserinnen und Leser. Alle, deren größter Wunsch es ist, Bundestagsabgeordneter zu sein, heben mal eben die Hand. Natürlich, Sie werden zu Recht einwenden, dass wir in der Redaktion Sie gar nicht sehen können. Interaktiv ist das gute alte Medium Zeitschrift nur sehr begrenzt nutzbar. Trotzdem ist es doch höchst unwahrscheinlich, dass sich jemand ernsthaft für den Job interessiert. Nun gut, um die 10.000 Euro netto verdient so ein Abgeordneter pro Monat inklusive Aufwandsentschädigung. Da muss ein Arbeitnehmer aus den unteren Lohngruppen lange für arbeiten. Was soll’s – Arbeiter und Prekäre sind sowieso kaum im Bundestag vertreten. Über zwei Drittel der Abgeordneten verfügen über einen akademischen Abschluss. Aber abgesehen vom schnöden Mammon bietet der Job als Parlamentarier nicht gerade viele erfüllte und befriedigende Momente. In seinem Wahlkreis muss das MdB die Jahreshauptversammlungen der Kaninchenzüchter besuchen. Ansonsten sitzt man in seinem Büro in Berlin, wühlt sich durch daumendicke Gesetzesnovellen und geht ab und an zu Ausschuss- oder Plenarsitzungen. Alle vier Jahre kommt noch erschwerend der Wahlkampf hinzu. Dann verteilt man in öden Fußgängerzonen Luftballons und lässt sich von betrunkenen und verworrenen Passanten beschimpfen. Aber schon ohne Wahlkampf kommt so ein Bundestagsabgeordneter locker auf eine 70-Stunden-Woche. Wer mehr Geld verdienen will, geht in die freie Wirtschaft. Wer wenigen Stress haben will, wird oder bleibt Beamter. Nur Narzissten und Idealisten sind mit Freude Parlamentarier. Manche Volksvertreter hingegen wirken bei öffentlichen Auftritten, als trügen sie ein unsichtbares Joch.
Die Lustlosigkeit, mit der manche Politiker ihre Aufgaben wahrnehmen, überträgt sich auf die Bürger. Fast jeder dritte Wahlberechtigte ist 2009 zu Hause geblieben. Wahrscheinlich wird der Minus-Rekord von vor vier Jahren am 22. September noch getoppt werden. Aber ist dem mündigen, aber schweigenden Bürger diese Entwicklung zu verdenken? Die Politik hat sich endideologisiert. Das Handeln der amtierenden Regierung wird von ihr allzu oft als „alternativlos“ beschrieben. Ob Eurorettung oder Bundeswehreinsätze in fernen Ländern, es scheint, als hätten Merkel und Co. überhaupt keine Wahl. Wenn es aber auf Regierungsebene keine Wahl gibt, warum sollte es dann bei den Wahlen noch eine Wahl geben?
Große inhaltliche Unterschiede zwischen den Parteien gibt es hingegen noch. In der Familienpolitik plädiert die CDU für mehr monetäre Leistung direkt an die Eltern, um den Geburtenrückgang zu stoppen. Die Oppositionsparteien hingegen verlangen mehr und bessere öffentliche Einrichtungen für Kinder. In der Energiepolitik würden Grüne, Linke und Sozialdemokraten gern die von der Kanzlerin proklamierte Energiewende am Leben erhalten. CDU und FDP aber versuchen mit Verschleppung und Strompreisbremse, ihre eigene Politik nach Fukushima zu stoppen. Beim Thema Steuersenkung sind die Regierungsparteien merkwürdig ruhig geworden, während die Opposition eine höhere Besteuerung für Besserverdienende fordert. Inhaltlich gäbe es also durchaus noch Entscheidungsspielräume. Allerdings sorgen nicht nur der Kanzlerin Worte von der „Alternativlosigkeit“, sondern auch die Demoskopen für Lethargie an den Wahlurnen. Eventuell sei eine Große Koalition möglich. Vieles aber deute auf die Fortführung der schwarz-gelben Politik hin. Alles andere als eine Bundeskanzlerin Merkel für die kommenden vier Jahre wäre eine Sensation. Warum also soll man sich bei solchen Aussichten ein Wochenende im goldenen September mit einem Wahlgang verderben?
Noch nie waren Regierungen so abhängig von der Meinung des Volkes
Demokratie ist ein seltsam‘ Ding. In vielen Ländern dieser Welt nehmen Menschenmassen bei Demonstrationen in Kauf, zusammengeknüppelt oder gar erschossen zu werden, nur um für eine demokratischere Gesellschaft zu kämpfen. Vor knapp 25 Jahren ertrotzte sich die erste gewaltfreie und erfolgreiche Revolution in Deutschland Demokratie von der Deutschen Demokratischen Republik. Doch sobald die Möglichkeit, seine Volksvertreter zu wählen, eine Selbstverständlichkeit geworden ist, sinkt die Attraktivität dieser Regierungsform. Ganz schwarzsehen muss man natürlich nicht. Noch nie waren Regierungen so abhängig von der Meinung des Volkes. Der morgendliche Blick in die Expertisen der Demoskopen ist für Politiker inzwischen Pflichtlektüre. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, wie am 22. September die Wahl ausgeht. Frei nach Franz-Josef Strauß könnte man behaupten: „Es ist egal, wer unter mir Bundeskanzler ist.“ Nur mit dem Unterschied, dass in Zeiten der Informationsgesellschaft über dem Bundeskanzler kein bayerischer Politiker steht, sondern der Souverän – wir. Machen wir was draus, mischen wir uns ein, auch zwischen den Wahlen. Behelligen wir unsere Volksvertreter mit unseren Anliegen. Lassen wir sie nicht allein in ihrem Raumschiff Berlin. Laden wir sie ein nicht nur zu den Jahreshauptversammlungen der Kaninchenzüchter, sondern auch dorthin, wo es wirklich brennt, ins Freibad, das geschlossen wird, in das Schauspielhaus oder auch zur Sitzung der örtlichen Bürgerinitiative.
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