Ich habe ein Problem mit Äpfeln. Je nachdem welche Sorte ich kaufe, desto mehr Schwierigkeiten bereitet mir das Essen. Das Zahnfleisch fängt an zu jucken, und wenn’s hochkommt, zieht sich mein Hals zusammen wie ein platter Fahrradschlauch. Da ich sowieso einiges an allergischen Reaktionen aufweisen kann – nach dem Pricktest leuchtet mein Arm im Dunkeln – scheint mir das auch nicht weiter verwunderlich. Gestorben bin ich daran bislang noch nicht. Seltsamer ist es schon, wenn ich Äpfel in unterschiedlichen Geschäften einkaufe und unterschiedliche Körperreaktionen erlebe. Ein Cox aus dem Supermarkt ist nicht gleich einem Cox aus dem Bioladen, und auch nicht gleich einem Cox direkt vom Bauernhof oder gar aus dem eigenen Garten. Bei den drei letzteren Varianten halten sich die Reaktionen im unteren Teil meines Kopfes nämlich in engen Grenzen.
„Ist ja klar, die Äpfel aus der Natur sind nicht gespritzt, dann reagierst du eben nicht“, sagen Bekannte und Familienmitglieder. Für mich geht es deshalb häufiger in den Bio-Markt, auch wenn ich anderswo für den Bio-Preis von zwei Äpfeln ein ganzes Netz bekäme. Es kommt bei Bio aber nicht nur auf den tatsächlichen Inhalt, also Anbau und Gehalt des Lebensmittels an. Wer in Plastik und Pappe eingeschweißtes Gemüse kauft und den Stempel Bio darauf sieht, der kann doch eigentlich nur den Kopf schütteln. Wie soll ein Lebensmittel ökologisch sinnvoll verkauft werden, das in Folie eingepackt ist, wenn es mit der Schale doch eine natürliche Verpackung an sich hat? Da sagt allein der gesunde Menschenverstand: Das ist nicht Bio, das ist Verarsche.
Peter Lustig, Kindheitsidol aus der ZDF-Sendung „Löwenzahn“, würde sich jetzt vermutlich das Kinn reiben und mit leicht zugekniffenen Augen sowas sagen wie: „Moment – kann ich mir nicht meine eigenen Äpfel anbauen? Wieso eigentlich nicht?“ Irgendwie weckt das ja einen Instinkt aus lange vergangener Zeit, als der Mensch nicht mehr nur Jäger und/oder Sammler war, sondern als er neben den Tieren auch das Samenkorn und die Erde zähmte und dort pflanzte und erntete, wo er sesshaft geworden war. In den 1920er Jahren wurde die Selbstversorgung in Wohnsiedlungen durch Genossenschaften gefördert, der Garten und der Karnickelstall war dort bis zur und gerade in der Nachkriegszeit angesagt.
Zumindest in den städtisch orientierten Teilen der Welt hat sich das aber seit den 1960er Jahren nahezu komplett geändert. Das Bevölkerungswachstum und die Abwanderung in die Städte ließ gar nicht so viel Platz, um jedem Bürger einen Garten zur Selbstversorgung zu ermöglichen. Zumal Grund und Boden in städtischen Gebieten sauteuer ist. Und trotzdem entwickeln Menschen heute wieder Oasen, in denen sie zumindest einen Teil der Versorgung übernehmen. Um wirklich Bio selbst anbauen zu können, müssen aber einige Faktoren beachtet werden. Mittlerweile gibt es zahlreiche Blogs und Webseiten, in denen sich Experten und Laien mit dem Thema befassen.
In der Summe scheint es wichtig, sich mit folgenden Themen auseinander zu setzen: Regenwasser ist besser als Leitungswasser, weil sich in Letzterem Kalk und andere schadende Substanzen befinden könnten. Wichtig ist auch der Sonneneinfall. Wer einen Balkon gen Norden hat, der könnte Pech haben mit genügend Sonneneinstrahlung. Der Boden auf Freiflächen wie Gärten oder Hinterhöfen sollte vorher analysiert werden, ob sich keine Schadstoffe in der Erde befinden. Denn sonst hat man auf einmal keine Bio-, sondern eine Chemie-Ernte. Von Plätzen in der Nähe von Straßen wie Vorgärten oder Verkehrsinseln wird außerdem abgeraten: Durch den Verkehr könnte das Obst und Gemüse mit Abgasen belastet werden, Hunde pinkeln an die Ernte, oder der Mensch zerstört das Beet durch Unachtsamkeit oder Zerstörungswahn.
Wem all das keine Probleme bereitet, der kann sich auf seinen eigenen Stadtgarten freuen. Dann weiß er, wo sein Essen herkommt. Sozusagen bio, bioer, am biosten. Ein Apfelbaum wird es auf meinem Balkon nicht werden. Aber die Tomaten sind schon mal fest eingeplant.
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