Grau in grau ist die Welt der drei Sozialamtsdamen Silvia, Barbara und Anika. Rot, gelb, grün, also ausgerechnet panafrikanisch bunt ist ihre Kleidung. Felicia Zeller hat für ihr Stück "Kaspar Häuser Meer" den überforderten Angestellten bruchstückhaft aufs Maul geschaut. Herausgekommen ist ein typisch „zeitgenössisches“ Theaterstück, das eigentlich niemand braucht, weil die Mechanismen des staatlich verordneten Sozialterrorismus hinlänglich bekannt sein dürften. Die Symptome kennt jeder aus der Tagespresse, die Ursachen werden ignoriert. Jetzt die Staatsvertreter als selbst „leidende“ Bürokratieopfer darzustellen, dafür reicht keine Groteske aus, das kann allenfalls mit schwächelndem Sujet erklärt werden. Auch die Regie findet überhaupt keine Mittel, sich diesem Manko entgegenzustemmen, vielleicht den Text selbst auf die Hörner zu nehmen oder wenigstens zu hinterfragen. Und so müssen die durchaus überzeugenden Schauspielerinnen in Wuppertal langweilen ohne zu wollen, nur ein paar städtische Angestellte im Publikum amüsieren sich wohl über die Treffsicherheit der Standard-Wortfetzen zwischen dem Publikumsverkehr am Telefon und dem stockenden Gesprächsbedarf mit der natürlich selbst hilflosen Leitungsebene. Kein Wunder also, dass das „Kaspar Häuser Meer“ bei den Mülheimer Theatertagen 2008 den Publikumspreis bekam.
Alles beginnt in Wuppertal mit einem Demoplakat. „Wir schaffen das“, halten die drei grinsend in die Höhe. Im Hintergrund steht bereits der graue Alltag, stilisierte Schreibtische, mit Aufgängen für Catwalks oder Ruheplatz. Auch Liebe, Neid und Hoffnung (rot, gelb, grün) bringen keine Struktur mehr in den Arbeitsalltag. Katrin Lindner inszeniert am Schauspielhaus einen Überlebenskampf von Sozialarbeiterinnen, die im Meer der Bedürftigkeit selbst ertrunken sind, die sich an ihre hundert unerledigten Akten nicht mehr erinnern, die jetzt auch noch den Kollegen Björn verlieren, Björn-Out nennen sie das, seine Fälle müssen verteilt werden, da hilft manchmal nur noch ein Megaphon – die Stelle bleibt dennoch „vorübergehend“ unbesetzt. Und Lindner kommt mit wenigen Requisiten aus, setzt konsequent auf das immanente Konstrukt Mitgefühl gegen Evolution, in dem wenig Raum für Visionen bleibt. Und so flüchten ihre Protagonisten wahlweise in Computerspiele oder Alkohol oder gleich beides. Besonders perfide, Anika gerät aus Überlastung selbst in den Strudel der Maschinerie, weil sie sich kaum noch um die eigene Tochter kümmern kann.
Das Problem des 75 minütigen Abends bleibt das Stück. Als Satire ist es zu harmlos, als Groteske zu komödienhaft, auch wenn es manchmal um Kinder geht, die ihr Erbrochenes löffeln müssen. Das ständige Streben nach Authentizität des Jugendamtsalltags ermüdet, auch weil keine noch so radikale Lösungen angeboten werden, alles reduziert sich auf die bald atemlosen drei Frauen, erschöpft im Hamsterrad, am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich in Übersprungs-Aktivitäten flüchten oder sich verkriechen. Starke Eltern für starke Kinder scheinen durch gesellschaftliche Prozesse kaum noch vorzukommen, aber gab es sie eigentlich je in ausreichendem Maße? Denunzianten wie den Dauerverstoßmelder Scheibenmeyer, der per Telefonterror ausgerechnet eine kubanische Familie diskreditieren will, die gab es in Deutschland dagegen immer genügend.
„Kaspar Häuser Meer“ von Felicia Zeller
R: Katrin Lindner
So 3.4. 18 Uhr
Kleines Schauspielhaus Wuppertal
0202 569 44 44
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Schäferwagen und Hexenhaus
„Hänsel und Gretel“ am Opernhaus Wuppertal – Auftritt 11/24
Ohne Firlefanz
Premiere von „Salome“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 10/24
„Im Stück steckt ganz viel Politik drin“
Regisseurin Barbara Büchmann über „Der einzige Mann am Himmel bin ich“ in Wuppertal – Premiere 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
„Macht und Machtspiele“
Intendant Thomas Braus über die neue Spielzeit am Wuppertaler Schauspiel – Premiere 09/24
Zahlreiche Identitäten
6. Hundertpro Festival in Mülheim a.d. Ruhr – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Weltstars in Wuppertal
Größen der Rock- und Pop-Szene gastieren im LCB – Porträt 07/24
Unterhaltsame Kurzweil
„Die lustigen Weiber von Windsor“ am Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 07/24
„Schauspielerfahrung schult perspektivisches Denken“
Schauspieler Thomas Ritzinger hat mit „Die letzte Nachtschicht“ einen Roman geschrieben – Interview 07/24
Bewegte Geschichte
Soziokulturelles Zentrum Die Börse in Wuppertal – Porträt 06/24
„Wir sind eher im sozialkritischen Drama zuhause“
Regisseur Peter Wallgram über „Woyzeck“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 06/24
Jack the Ripper im Opernhaus
Ausblick auf die Spielzeit der Wuppertaler Bühnen – Bühne 05/24
Richtig durchgestartet
Der Wuppertaler Verein Insel – Porträt 05/24
Ethel Smyth und Arnold Schönberg verzahnt
„Erwartung / Der Wald“ im Wuppertaler Opernhaus – Auftritt 05/24
„Eine Geschichte, die keinen Anfang und kein Ende hat“
Die Choreograph:innen Thusnelda Mercy und Pascal Merighi über „Phaedra“ in Wuppertal – Premiere 05/24
Auf die Melancholie die Liebe
Theatergruppe Bamboo inszeniert frei nach Georg Büchner – Bühne 04/24
Teuflischer Plan
Senecas „Phaedra“ am Theater am Engelsgarten – Prolog 04/24
„Es geht nicht mehr um den romantischen Naturort“
Manuel Schmitt inszeniert „Erwartung / Der Wald“ an der Oper Wuppertal – Premiere 04/24
Von der Liebe enttäuscht
Premiere von Georg Friedrich Händels Oper „Alcina“ in Wuppertal – Auftritt 04/24
„Das Klügste ist, dass man die Polizei gar nicht sieht“
Anne Mulleners inszeniert „Falsch“ am Wuppertaler Theater am Engelsgarten – Premiere 03/24
„Wir hoffen, dass die Geschichte neu wahrgenommen wird“
Regisseurin Julia Burbach inszeniert „Alcina“ an der Oper Wuppertal – Premiere 02/24
„Der Roman lässt mich empathisch werden mit einer Mörderin“
Regisseur Bastian Kraft über „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – Premiere 01/24
„Wir haben uns absolut gegen den großen Stein entschieden“
Regisseurin Hannah Frauenrath über „norway.today“ am Theater am Engelsgarten – Premiere 12/23
Knechtschaft und Ungerechtigkeit
„Cinderella“ im Opernhaus Wuppertal – Oper 12/23