Das Wuppertaler Theater am Engelsgarten zeigt Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“, das auf der wahren Geschichte des Mörders Johann Christian Woyzeck basiert. Ein Gespräch mit Regisseur Peter Wallgram.
engels: Herr Wallgram, welchem teuflischen Ansatz aus dem Dramenfragment folgt denn ihre Inszenierung am Engelsgarten?
Peter Wallgram: Also teuflisch gar nicht. Obwohl es ja verschiedene Deutungen gibt, sind wir eher im sozialkritischen Drama zuhause. Was uns an Woyzeck interessiert, ist die Frage nach der Klasse und den sozialen Schichtungen. Das ist dieses Märchen der Aufstiegsmöglichkeit, dass man vom Tellerwäscher zum Millionär werden könnte, dass es einen Weg aus der Unterschicht gäbe. Dieser Weg ist aber verbaut. Vor allem die Vertreter der Oberschicht sagen so gerne, na ja, wer brav ist und fleißig ist und gut arbeitet, der kann alles schaffen. Die negieren nicht, dass es Schichtenunterschiede gibt, aber sie sagen: Schaut uns an, wir haben zwar viel Geld, aber wir haben das zurecht verdient, weil wir 60 Stunden in der Woche arbeiten. Das wollen wir aufzeigen und vor allen Dingen auch diese Lautsprecherei, also diese Leute, die immer gute Empfehlungen haben. Da sind wir ganz stark dran, und leider ist die Korrelation von psychischer Krankheit und Armut sehr aktuell.
Warum ist dieser Mörder nach so langen Jahren immer noch interessant?
Woyzeck war ja der erste Fall, wo man sich tatsächlich Gedanken darüber gemacht hat, ob er schuldfähig ist und weiß, was er tut. Das ist interessant, wie die Deutung offenbleibt. Woyzeck wird ja recht viel gespielt in letzter Zeit und es gab eine Welle, wo man sehr auf den Femizid abgezielt hat. Ich finde das total verständlich, trotzdem bleibt die Frage, wie viel Schuld hat der Einzelne, was sind die gesellschaftlichen Strukturen, die strukturelle Gewalt und wie kommt man da wieder heraus? Das liegt mir näher. Der Woyzeck hat Schuld auf sich geladen, aber die Gesellschaft arbeitet mit.
Bei Büchner geht es auch um Besitzstände an Frauen. Ist das ein zeitgenössisches Abiturthema?
Das finde ich schon. Da hat sich ja nicht so wahnsinnig viel dran geändert. Marie ist eine attraktive Frau und jeder findet die gut, und Woyzeck findet die auch gut. Der Tambourmajor hat aber einen Federbusch und eine Brust wie ein Löwe. Ich kann dann auch die Marie verstehen, die dann sagt, sie wolle halt auch irgendwie leben und mit dem ist das vielleicht lustiger, der kann mir mehr bieten. Nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, der ist auch ein fescher, attraktiver Mann, der was hermacht, der fährt ein Cabrio und kein klappriges Damenfahrrad und hat vor allen Dingen auch keine psychischen Probleme, weil der voll im Saft steht. Es ist ja eine Frage, ob sie fremd geht oder nicht und in welcher Beziehung die überhaupt stehen. Woyzeck und Marie vielleicht nur, dass sie gemeinsam dieses Kind haben. Ich glaube, die Marie ist dem Woyzeck zu nichts verpflichtet. Ich finde es auf jeden Fall ein relevantes Thema und die Sicht der Frau kann man gut untersuchen und gut durchdiskutieren. Eine Lehrerin hat mir eine Anekdote aus dem Unterricht erzählt, wo Schüler, auch Schülerinnen, als das besprochen wurde, gesagt haben, die Marie ist ja selber schuld.
In einer Dortmunder Inszenierung war Marie richtig böse.
Warum nicht. Das könnte man auch so deuten, dass Marie zu denen gehört, die Woyzeck das Leben zur Hölle machen. Ehrlich gesagt finde ich aber nicht, dass Marie Schuld auf sich lädt. Die eigentlich am allerwenigsten.
Welche düstere Szenerie erwartet denn die Zuschauer:innen?
Düster? Ich weiß gar nicht, ob es so düster wird. Wir proben seit zwei Wochen und ich möchte es vermeiden, es zu düster zu machen. Weil die Story ja an und für sich schon so grauselig ist und die Gesellschaft ja so grauselig zu den Menschen. Und die Welt an sich ist so schlecht. Vielleicht schaffen wir es, dass wir ein bisschen Leichtigkeit da reinkriegen.
Es geht ja auch um Armut. Woyzeck sagt: „Wenn wir armen Menschen in den Himmelkämen, müssten wir donnern helfen.“ Das passt so gar nicht zu der aktuellen Suche nach einer Work-Life-Balance.
Genau. Die Suche nach der Work-Life-Balance, das ist genau die Art von Story von denen, ich nenn sie immer die Lautsprecher, die immer gern alles wissen und jedem sagen können: Mach das doch mal so, arbeite doch mal weniger, dann geht es dir auch besser. Die Frage ist, ob man sich das leisten kann. Wie Woyzeck auch sagt: „Moral ist schön und gut für die Leute, die sich das leisten können“. Er kann sich das nicht leisten. Er ist Diener dreier Herren, hat drei Jobs und strampelt sich ab, er kann über solche Fragen nicht nachdenken.
Sechs Figuren, vier Schauspieler:innen – wer muss denn da in Wuppertal gedoppelt werden?
Wir versuchen, alle Figuren zu viert zu spielen. Wir wollten damit dieses strukturelle Problem ein bisschen mitaufgreifen und das Statusproblem, wenn wer mal kurz Oberwasser hat, dann tritt der gerne mal nach unten. Und es ist auch ein spielerischer Ansatz, dass wir dieses „Being Franz Woyzeck“ herausarbeiten und die Frage, wer übernimmt jetzt mal.
Auf das Gutachten von Johann Christian August Clarus über den Geisteszustand des echten Woyzecks folgte das Todesurteil. Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau in Deutschland durch Femizid. Der Geisteszustand der Männer scheint sich nicht verbessert zu haben, oder?
Nee. So viel hat sich nicht verändert. Aber das ist eine Frage, mit der wir uns wie gesagt gar nicht so viel beschäftigen. Ich finde das einen legitimen Ansatz. Unserer ist der: Der einfachste Weg sich zu wehren ist, immer auf das schwächste Glied draufzuschießen. Der Woyzeck wird so drangsaliert und da fällt ihm nichts Besseres ein, als sich die Schwächste herauszupicken und sich an der Marie zu rächen und zu sagen, hurra, jetzt hätte er es der Gesellschaft aber gezeigt. Das ist genau so ein Kurzschluss wie zu sagen, ah, mir geht es wirtschaftlich so schlecht: scheiß Ausländer. Das ist strukturelle Gewalt, die da mitwirkt.
Mit Blick auf die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten: Sind das gute Zeiten für neue Woyzecks?
Also ich denke, dass in Krisenzeiten der Druck auf bestimmte Schichten stärker zunimmt als auf andere Schichten. In Krisenzeiten, in Kriegszeiten nimmt der Druck einfach zu. Die Ungleichheit wird größer. Und die unteren Schichten müssen das ungleich stärker ausbaden.
Woyzeck | Fr 7.6. 19.30 Uhr(P) | Theater am Engelsgarten, Wuppertal | 0202 563 76 66
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