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Sabine Werth
Foto: Dietmar Gust

„Die Armen bleiben auf der Strecke“

06. Juni 2020

Tafelgründerin Sabine Werth über Corona und politische Maßnahmen

engels: Frau Werth, Corona ist eine Ausnahmesituation. Niemand konnte sich so recht darauf vorbereiten. Wer ist besonders davon betroffen?

Sabine Werth: Betroffen sind zum einen die Armen, denn sie haben nicht das Geld, um Hamsterkäufe zu tätigen und bleiben damit auf der Strecke. Zum anderen wandern unendlich viele Leute in Teilzeit oder in Kurzarbeit, d. h. sie haben deutlich weniger ihres Einkommens zur Verfügung. Das macht sich gewaltig im Portemonnaie bemerkbar. Ganz viele aus dem Hotel- und Gastrobereich sind entlassen worden, werden also potentiell Kund*innen von Tafeln.

Sind Gruppen neu hinzugekommen? Verschiebt sich der Bedarf?

Wer natürlich noch extrem betroffen ist, sind die Obdachlosen. Dadurch, dass es keine Touristen mehr gibt, haben sie wenig Möglichkeiten, Flaschen zu sammeln oder zu betteln. Viele Obdachloseneinrichtungen haben aus Hygiene- und Sicherheitsgründen zugemacht. D. h. es gibt weniger Einrichtungen, an die sich Obdachlose wenden können, um zu duschen, neue Klamotten zu kriegen, um zu übernachten oder Essen zu bekommen. Sie können sich noch weniger gegen diese Situation wehren als alle anderen. Im Augenblick haben krisenbedingt 50 Prozent aller Tafeln zu. Wenn die Tafeln wieder in den Normalbetrieb gehen, wird sich das Ausmaß von Corona bemerkbar machen anhand der Kund*innen und Neukund*innen, die dann vor unserer Tür stehen. Der Bedarf wird sich verschieben.

Was ist die größte Not für die Betroffenen?

Für Obdachlose ist die größte Not, dass sie keine Möglichkeit haben, an Geld heranzukommen. Sie können weder betteln noch Pfandflaschen sammeln und damit sind natürlich zwei ‚Einnahmequellen‘ schon mal per se dahin. Dazu kommt, dass die Möglichkeit Essen zu bekommen unheimlich schwer geworden ist. Zu normalen Zeiten ist es so, dass sie ab sieben Uhr morgens schon mit dem ersten Frühstück bei einer Obdachloseneinrichtung anfangen können. Irgendwann können sie ein frühes Mittagessen zu sich nehmen, Kaffee trinken, Abendbrot essen. Das ist sonst alles eine Frage der Distanzüberwindung − sie pendeln also immer von einer Obdachloseneinrichtung zur nächsten. Dann können sie auch wirklich mit vollem Bauch den Tag verbringen. Aber es ist natürlich so eine Sache: Wenn sie jetzt beim Schwarzfahren erwischt werden, weil ihnen die Option zu betteln fehlt, müssen sie quer durch die ganze Stadt laufen. In Großstädten wie Berlin ist das nicht ganz so leicht. Allein das tägliche Überleben ist für viele Obdachlose im Augenblick wahrscheinlich der absolute Horror. Senior*innen haben nicht nur wenig Geld, sondern trauen sich vielleicht auch gar nicht mehr vor die Tür. Zum einen zu ihrem eigenen Schutz, aber auch aufgrund des Alten-Bashings, was die Reihe rum geht. Nach dem Motto: „Ihr Alten, bleibt mal schön zu Hause, gefährdet uns nicht und wir gefährden euch nicht und alles ist in Ordnung“. Das hat aber was von Kasernierung. Ich finde das wirklich unerträglich. Leider werden diese Stimmen immer lauter. Es ist eine extrem emotional aufgeladene Situation, gerade für alte Menschen. Sie kriegen keinen Besuch, können ihren normalen Alltagsdingen nicht nachgehen, wie eben zum Beispiel zu einer Tafel zu gehen, und die sozialen Kontakte sind noch stärker reduziert, als sie es sowieso zu normalen Zeiten wären. Alleinerziehende haben das Problem, dass sie im Augenblick die Kinder komplett am Hals haben. Und dann stellt sich die Frage: Haben sie einen Job? Sind sie auf Kurzzeit? Sind sie rausgeflogen? Wie ist da die Situation? Alleinerziehende auf Hartz-IV haben nicht das Geld, um sich zu bevorraten. Als die große Krise in der 2. März-Hälfte mit besonders vielen Hamsterkäufen anfing, fiel das klassischerweise zusammen mit der Zeit, in der viele Hartz-IV-Bezieher nur noch wenig Geld für den Rest des Monats übrig haben. Erschwerend kam hinzu, dass dann auch noch die Tafeln und Ausgabestellen zugemacht haben. Eine Situation, in der gerade bei Alleinerziehenden die Not sehr präsent war. Wenn Alleinerziehende noch arbeiten müssen, die Kinder aber zu Hause sind, ist das natürlich noch eine zusätzliche Belastung. Wichtig ist, wie diese Situation gelöst wird, was aus den sozialen Kontakten und insgesamt aus den Kindern wird. Nicht ohne Grund wurde eine Diskussion darüber laut, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien jetzt die Prüfungen nicht im gleichen Maße bewältigen können wie andere Kinder. Denn die, die mehr Platz zu Hause haben, haben mehr Möglichkeiten zu lernen. Mit einer sechsköpfigen Familie auf zwei Zimmern habe ich keine Ruhe, um mich auf eine Prüfung vorzubereiten. Dieses ganze Thema der sozialen und gesellschaftlichen Ausgrenzung ist so komplex. Ich glaube, dass wir noch viele Jahre an den Konsequenzen von Corona knabbern werden.

Viele Tafeln haben derzeit geschlossen. Wie werden die Menschen jetzt versorgt?

Der wesentliche Punkt ist: Keine Tafel versorgt, sondern wir unterstützen. Vor allem in der Corona-Zeit muss das immer wieder laut gesagt werden. Die Versorgung ist Sache des Staates. Er muss dafür sorgen, dass die Bevölkerung ein auskömmliches Einkommen hat. Wir als Tafeln können da nur unterstützen, indem wir den Leuten mit Lebensmittelspenden zur Seite stehen, damit sie besser über den Monat kommen. Wir können nur das geben, was wir haben. Wenn wir wenig an Lebensmitteln bekommen, können wir auch nur wenig verteilen. Die Annahme, dass wir versorgen, ist leider etwas, das in manchen Köpfen immer noch herumgeistert, so nach dem Motto: „Ich geh’ zur Tafel und da hab’ ich einen Anspruch drauf“. Da unsere 45 Ausgabestellen derzeit geschlossen haben, sind wir als Berliner Tafel seit sechs Wochen damit beschäftigt, Lebensmitteltüten zu den Leuten nach Hause zu fahren. Wir haben jeden Tag bis zu 850 Tüten, die wir über das ganze Stadtgebiet verteilen − ein Husarenritt. Die Solidarität innerhalb der Gesellschaft ist gewaltig groß. Ganz viele helfen mit ihren Lastenrädern oder stellen Autos zur Verfügung oder helfen allgemein bei der Verteilung. Für uns ist das ganz wichtig, denn über 1000 Ehrenamtliche fallen aktuell weg, da sie zu Risikogruppen gehören. Sie sind 60, 70, 80 plus oder vorerkrankt.

Wie geht es nach Corona weiter?

Wir sind auch sehr gespannt, wie es danach weiter geht, gerade in unseren Ausgabestellen. Dadurch, dass unsere Ehrenamtlichen schon ein stattliches Alter erreicht haben, wissen wir nicht, ob alle wiederkommen. Wir hoffen ein bisschen, dass wir einen Teil der direkten Belieferung über die Krise hinaus retten können. Damit könnten wir weiterhin Tüten packen, die wir den Menschen nach Hause bringen. An diejenigen, die vielleicht behindert sind oder aus anderen Gründen nicht zur Ausgabe kommen können. Da sehe ich auch eine Chance in der Krise.

Wie können Menschen, die von der Krise weniger betroffen sind, Ärmere unterstützen? Teurere Lebensmittel kaufen, damit die günstigen liegen bleiben?

Das ist natürlich eine Möglichkeit. Das Phänomen haben wir zu normalen Zeiten auch schon. Wir kriegen von den Discountern und Supermärkten bis zu 40 Prozent Bio-Produkte, weil diese Waren in den Läden immer noch teurer sind als konventionelle. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, kaufen eher die preiswerteren Sachen. Wir kriegen dann immer die übrig gebliebenen Bio-Produkte. Das ist natürlich total klasse. Gerade in den Corona-Zeiten sollten wir vielleicht einen nicht ganz so großen Bogen um Obdachlose machen und tatsächlich einen Euro spenden. Jetzt ist natürlich auch eine schöne Möglichkeit, mal herauszufinden, ob die Familie nebenan auch wirklich Spielzeug oder irgendwelche Gesellschaftsspiele hat. Die kann man einfach mal rüberbringen und sagen: „Hier habt ihr was Schönes und wenn ihr wollt, kann ich euch auch zeigen, wie’s geht“. Ich glaube, die Kontaktvermeidung müssen wir wirklich ernst nehmen, aber wir sollten darüber unsere Nächsten nicht vergessen und alles, was trotz Abstandsregelung möglich ist, auch möglich machen und den Menschen, die im Augenblick Hilfe brauchen, diese auch wirklich angedeihen lassen. Das wäre eine schöne Vorstellung, wenn wir nicht nur Solidarität an der einen oder anderen Stelle üben, sondern dann auch wirklich im direkten Umfeld. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen grundsätzlich nur Menschen der eigenen Ebene kennen. Ich bin sicher, dass ganz viele auch ärmere Leute kennen oder sie zumindest schon mal gesehen haben. Vielleicht können sie auch einfach nachhaken, ob Hilfe angesagt ist.

Was fordern Sie von der Politik?

Dass jetzt die Autohäuser als Erstes wieder aufhaben, dafür aber die Kitas geschlossen bleiben, das sind Absurditäten, bei denen ich das Gefühl habe, gerade in der Krisenzeit scheint die industrielle Lobby wieder richtig massiv bei der Politik auf den Füßen zu stehen. Alles andere darf dabei aber auch nicht vergessen werden. Die Politik muss sich ernsthaft Gedanken machen, ob es sinnvoll ist, die vielen Gelder nur für die Großindustriellen auszugeben. Das ist ja hübsch, dass die Automobilindustrie gerade gestützt wird, aber wenn dabei der kleinere Mittelstand komplett vor die Hunde geht? Wir sind hier mit der Berliner Tafel auf dem Großmarktgelände. Die Firmen hier haben extreme Existenzprobleme. Ein Teil davon hat als Hauptabnahmestellen Hotels und Gastronomie. Bei ihnen sind 80 bis 90 Prozent des Umsatzes weggebrochen. Da wird die Lage schnell existenziell. In diesem Zusammenhang würde ich mir durchaus Soforthilfen wünschen. Grundsätzlich müsste überlegt werden, ob der Hartz-IV-Satz um 100 oder 150 € im Monat angehoben wird. Natürlich ist das eine ziemlich große Summe, die da zusammenkommt, aber sie wäre ein ganz klares Signal in Richtung der Ärmsten der Armen: „Wir vergessen euch nicht. Wir wissen, dass ihr jetzt besondere Herausforderungen zu meistern habt“. Ich würde mir wünschen, dass finanzielle Sofortmaßnahmen für die Not leidende Bevölkerung sofort greifen und nicht erst, wenn das Bundesverfassungsgericht sagt: „Das hätte aber schon längst passieren sollen“.


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www.armut-gesundheit.de | Der Verein um den Arzt und Sozialpädagogen Gerhard Trabert vertritt die These, dass Armut krank und Krankheit arm macht.
www.planet-schule.de | Die Unbildung von heute erzeugt die Armut von morgen? WDR und SWR bieten in der Corona-Zeit multimediales Schulfernsehen.

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Nina Hensch

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